Giovanni Papini muss
nicht mehr entdeckt werden. Die Veröffentlichung der „Storia di Cristo“ - Das Leben
des Herrn – im Jahre 1921 hat ihn sofort, auch außerhalb der Grenzen Italiens, berühmt
gemacht in Europa, Asien und den beiden Amerika. Das Gesamtwerk Papinis zählt ca.
50 Bände und ist in 27 Sprachen übersetzt.
Vergessen ist der hoch gebildete
Wissenschaftler, Literat und Journalist allerdings in seinem Heimatland selbst. Dort
wird er nur mehr selten gelesen und seine Werke kaum mehr aufgeführt. Papini wurde
1881 in Florenz geboren und starb dort 1956 im Alter von 75 Jahren. „Das Leben des
Herrn” kam 1921 heraus und war das öffentliche Bekenntnis seiner Konversion. In diesem
Werk ist die Person Christi keine geschichtliche, sondern ein mystische Erscheinung.
Es ist eine Betrachtung Christi aus tiefster Seele, in völligem Hingegebensein an
seine Lehre. Eigenwillige Vorstellungen und besonders sprachliche Überspitzungen
sind in die überlieferte Interpretation eingestreut und ihr angefügt, doch gibt uns
Papini den Christus der Evangelien wieder, entkleidet aller Angleichungen und Kompromisse,
ohne alle Kommentare – Christus wiederhergestellt in der Einzigartigkeit seiner Botschaft.
Unsere Auswahl gilt heute einem besonders eindrucksvollen Auszug aus dem „Leben
des Herrn“ mit dem Titel „Der Rüsttag“, der letzte Tag des Herrn.
Die Sonne
stieg am leeren Aprilhimmel höher, war dem Wendepunkt ihres Weges schon nahe. Das
Wettziehen zwischen dem schlaffen Verteidiger und den zur Wut gereizten Angreifern
hatte die beste Zeit des Vormittags verbraucht; jetzt musste man eilen. Nach einer
alten mosaischen Vorschrift durften Leichen von Gerichteten nach Sonnenuntergang nicht
mehr am Ort der Hinrichtung bleiben, und die Tage sind im April noch nicht so lang
wie im Juni.
Und wenn Kajaphas auch noch so viel hitzige Kläffer hinter sich
hat, er ist doch nicht ruhig, bis die Füße des Wanderers für immer angehalten sind,
ans Kreuz festgenietet mit eisernen Spitzen. Er erinnert sich daran, wie derselbe
wenige Tage zuvor unter dem Schwingen von Baumzweigen und unter Jubelliedern eingezogen
ist. Der Stadtbewohnerschaft ist er ja sicher; aber die Stadt ist ja zu dieser Zeit
voll von Menschen, die von allen Richtungen hergekommen sind; die haben nicht die
gleichen Interessen und nicht die gleichen Leidenschaften wie die unmittelbare Anhängerschaft,
die in der Nähe des Tempels lebt. Diese Galiläer besonders, die bisher mit dem Unfriedenstifter
gegangen sind, die ihn lieben, die konnten einen Handstreich versuchen und den eigentlichen
Weiheakt dieses Festtages wenigstens verzögern, wenn auch nicht geradezu verhindern.
Auch
Pilatus hat es eilig, sich den ungelegenen Unschuldigen aus den Augen zu schaffen.
Er mochte nicht mehr an ihn denken müssen; er hofft, ihn zu vergessen, wenn er nur
einmal tot ist; seine Blicke und Worte hofft er zu vergessen, und besonders das ätzende
Unbehagen, das fast wie ein schlechtes Gewissen sich ausnimmt . Wenn er auch seine
Hände gewaschen und abgetrocknet hat, es ist ihm doch, als verurteilte ihn der, der
jetzt schweigt, zu einer noch schlimmeren Strafe als zum Tode; er kommt sich fast
als der Schuldige „Was ich geschrieben habe, hab' ich geschrieben.“ vor gegenüber
dem Todgeweihten. Um seine Verachtung an den wirklichen Schuldigen auszulassen, gibt
er einem Schreiber den Wortlaut für den Titulus an, für das Täfelchen, das der Verurteilte
am Halse tragen muss, bis man es über seinem Haupte ans Kreuz anheftet; er ließ schreiben:
Jesus von Nazareth, König der Juden. Der Schreiber setzt diese Worte dreimal, in drei
Sprachen, in schönen, roten Buchstaben auf das weiß gestrichene Brettchen. Die Hohenpriester
sind noch in der Nähe, die Vorbereitungen in Gang zu halten; die Hälse reckend, lesen
sie die zweideutige Schrift und murren: „Du musst nicht schreiben: König der Juden,
sondern: ich bin der König der Juden.“ Der Landpfleger schneidet aber die Einwürfe
ab mit dem trockenen Sätzchen: „Was ich geschrieben habe, hab' ich geschrieben.“ Das
sind die letzten Worte, die die Geschichte von ihm berichtet, und die tiefsten.
Unterdessen
hatten die Soldaten diesem König sein Gewand zurückgegeben, das Gewand des armen Mannes,
und ihm das Täfelchen an den Hals gehängt; andere hatten aus einer Gerätkammer des
Prätoriums drei tüchtige Kreuze aus Pinienholz hervorgeholt, dazu Nägel, Hammer und
Zange. Der Zug war fertig zum Aufbruch. Pilatus sprach die herkömmliche Formel: „I,
lictor, expedi crucem!“ Voran, Liktor, mach schnell mit dem Kreuz! Und die traurige
Reise begann.
Voran ritt der Hauptmann zu Pferde, in der Eigenschaft des „Todvollziehers“,
wie Tacitus mit schreckhafter Kürze sich ausdrückt. Unmittelbar dahinter, von bewaffneten
Legionären umringt, kamen Jesus und die zwei Räuber, die mit ihm gekreuzigt werden
sollten. Alle drei mussten nach dem römischen Brauch selber ihre Kreuze tragen. Es
folgte ihnen die krause, trampelnde Menge; von Straße zu Straße kamen noch andere
dazu, Mitschuldige und Neugierige.
Es war Parasceve, der Tag der Zurüstung,
der unmittelbare Vortag des eigentlichen Paschafestes. In jedem Hause rührte eine
Wirtschafterin die Hände zu den letzten Vorbereitungen; denn vom Sonnenuntergang an
sollten alle Menschenhände von der Adamslast auf vierundzwanzig Stunden ruhen. Die
Lämmer hingen abgehäutet und geviertelt, für das Feuer bereit; die ungesäuerten Brote
lagen im Backtrog geschichtet, duftend nach dem Ofen ; die Männer füllten den Wein
ab; die Kinder machten sich auch zu schaffen und hantierten auf dem Tisch in der Stube
am bitteren Kraut. Es war niemand, der nicht zu tun gehabt hätte; niemand, der nicht
inwendig froh war im Gedanken an den schönen Feiertag, an dem jede Familie um ihr
Haupt sich sammelt, isst und den Dankwein trinkt, und Gott ist Zeuge der Fröhlichkeit,
denn aus allen Häusern schallen die Hymnen zu ihm empor. Auch die Armen fühlten sich
an diesem Tage beinahe reich; und die Reichen waren der außerordentlichen Einnahmen
wegen fast ein wenig großmütiger als sonst; die Jungen wenigstens, die noch erwartungsvoll
waren, weil die Erfahrung sie noch nicht enttäuscht hatte, waren liebevoller als sonst,
und die Mütter fühlten sich eher geliebt als sonst. Eine Flut von Licht ergoss sich
dazu aus der Sonne des Ostens über die vier Hügel.
In dieser Festluft, durch
diese Festgeschäftigkeit hin, mitten durch die festlich gestimmte Bewohnerschaf t
bewegt sich langsam wie ein Leichenbegängnis der Unglückszug der Kreuzträger. Um sie
her spricht alles von Freude und Leben; nur sie gehen in Leidensglut und Tod. Alle
sind glücklich erregt in der Erwartung des Abends, wo sie mit den Geliebten zusammen
um den gerüsteten Tisch sitzen, den feurigen, klaren Wein trinken und dann sich auf
das Bett strecken werden mit dem Gedanken an den schönsten Sabbat im ganzen Jahr.
Nur die Drei sind für immer weggerissen von allen, die sie je geküsst haben; sie werden
sich aufs Schmachholz strecken, werden nur noch einen Schluck Essig trinken, und dann
kommen der kalte Tod und die kalte Erde.
Wo der Hufschlag vom Pferd des Hauptmanns
erklingt, treten die Leute beiseite, bleiben dann aber stehen und schauen auf die
Ärmsten, die unter der furchtbaren Last keuchen und schwitzen. Die beiden Räuber gebärden
sich eher wie stark und frech; aber der erste, der Mann der Schmerzen, macht bei jedem
Schritt den Eindruck, als könnte er keinen weiteren mehr tun. Erschöpft von der Schreckensnacht,
von den vier Verhören, vom Hin-und-herschleppen, von den Schlägen mit Fäusten und
Stöcken, von der Geißelung; entstellt von Blut, Schweiß und Spucke, von dieser letzten
Anstrengung des Kreuztragens - da ist er nicht mehr der jugendkühne Mann, der vor
wenigen Tagen erst die Räuberhöhle, den Tempel, ausgeräumt hat. Sein damals leuchtendes
Antlitz ist jetzt verzerrt wie von Krämpfen; die Augen, blutunterlaufen wie von verhaltener
Qual, liegen tief in den Höhlen; auf den von Rutenstreichen zerrissenen Schultern
bleibt das Gewand immer wieder kleben an den offenen Stellen und erhöht so die Marter;
die Füße müssen noch mehr als die andern Glieder all die Müdigkeit spüren, sie wanken
unter der Last des Leibes und des Kreuzes.
Der Geist ist zwar willig, aber
das Fleisch ist schwach.“ Was für Schläge haben seit der Abendstunde, wo der Todeskampf
begonnen hat, diesem Fleisch noch weiter Kraft entzogen! Der Kuss des Judas, die Flucht
der Freunde, die Stricke am Handgelenk, das Drohen der Richter, die Misshandlungen
der Dienstleute, die Feigheit des Pilatus, das Tod!-Tod !-Schreien, der Spott der
Soldaten - und jetzt dieses Schreiten unter dem Kreuz, verachtet und verlacht von
den Menschen, die er liebhat!
Nur ein paar Frauen mit verschleierten Gesichtern
folgten dem Zug in einiger Entfernung; sie weinten, verbargen aber ihr Weinen wie
etwas, was für ein Verbrechen gehalten werden könnte. Sie waren noch nicht an das
Tor gekommen, das in die Vorstadtgärten hinausführte, waren aber schon in dessen Nähe,
als Jesus, „Der Geist ist zwar willig, aber das Fleisch ist schwach.“ Am Ende der
Kräfte, strauchelte, der Länge nach zu Boden fiel und so unter dem Kreuz ausgestreckt
liegenblieb. Das Gesicht war ihm plötzlich weiß geworden wie Schnee; die entzündeten
Lider bedeckten die Augen; man hätte ihn für tot halten müssen, wenn nicht der keuchende
Atem aus dem leicht geschlossenen Munde gedrungen wäre. Aber der Hauptmann, der, wie
Pilatus, die leidige Arbeit möglichst schnell erledigt haben wollte, wusste, was ein
Mensch leisten kann, und sah ein, dass der Unglückliche da das Kreuz nicht bis zur
Schädelstätte hinaufschleppen würde; deshalb suchte er mit dem Blick nach jemand,
der dem schweren Gewicht gewachsen wäre. Gerade hatte sich ein Mann mit Namen Simon,
aus Cyrene gebürtig, in das Gedränge gemischt; er kam von der Feldarbeit, und der
Menschenknäuel hatte ihn aufgehalten; jetzt betrachtete er mit bestürzten Mienen,
voll Mitleids den zusammengefallenen, schweratmenden Körper unter den gekreuzten Balken.
Der Hauptmann wurde auf ihn aufmerksam , und weil der Mann ihm gutwillig und außerdem
muskulös vorkam, rief er ihn zu sich und befahl: ‚Fass das Kreuz an und komm mit!’
Der Cyrenäer gehorchte, ohne ein Wort zu sagen.’