Angeregt durch eine Predigt von Papst Benedikt XVI. Emeritus und das von Joseph Ratzinger
geschriebene Jesusbuch „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen“ legt der
Abt Werlen Ende 2012 in seiner Schrift „Miteinander die Glut unter der Asche entdecken“
Vorschläge für konkrete Schritte in der katholischen Kirche vor, deren Zustand er
als dramatisch bezeichnet. Es sind zum Teil zugespitzte Vorschläge für mögliche Neuerungen
in der Kirche: Mehr Kompetenzen für Klöster, Zulassung von Dialog, Offenheit für Kritik,
neue Regelungen für Bischofsernennungen, ein neues Beratungsgremium für den Papst
und vieles mehr. Einiges davon ist inzwischen in der Phase der kirchlichen Überlegungen,
manches ist sogar schon verwirklicht worden. Wir haben das Gespräch an jenem Tag geführt,
an dem Abt Martin Werlen noch Abt war. Nur einen Tag später hätten wir das nicht mehr
tun dürfen: Abt Werlen wäre es nach seinem Rücktritt als nunmehr einfacher Mönch nicht
mehr gestattet gewesen, uns ein Interview zu geben.
Herr Abt, im Jahre 2001
hatten Sie und Ihre Gemeinschaft beschlossen, zwölf Jahre lang das Amt des Abtes von
Einsiedeln und vom Kloster Fahr zu übernehmen, zu bekleiden. Die zwölf Jahre sind
vergangen, Sie hätten weitere zwölf Jahre Abt bleiben können. Dennoch haben Sie entschlossen,
das Amt weiterzugeben und Papst Franziskus Ihren Rücktritt angeboten. Tut es Ihnen
dennoch ein bisschen Leid, dass Sie in wenigen Stunden nicht mehr dieses Amt bekleiden
werden?
„Nein, es tut mir nicht Leid. Ich freue mich sehr darauf. Ich schaue
dankbar zurück auf die zwölf Jahre, alles, was mit so vielen Menschen zusammen möglich
war in der Nachfolge Jesu Christi. Und ich bin zuversichtlich, dass es auch gut weitergeht.“
Sie
waren erst 39 Jahre alt, als Sie zum Abt gewählt wurden. Welche zählen Sie zu den
wichtigsten, welche zu den eher schwierigen Ereignissen in der Zeit Ihrer Leitung
des Benediktinerklosters Einsiedeln?
„Die größte Herausforderung für mich
war und ist immer, mich dem zu stellen, was da ist. Das, was Gott uns jetzt zumutet,
und das zu leben. Und das Schwierigste und das Größte, das ich beitragen konnte, war,
mich der ganzen Herausforderung der sexuellen Übergriffe durch Menschen, die in der
Kirche Verantwortung tragen, zu stellen. Den Menschen zu begegnen, die solche Übergriffe
erfahren haben. Versuchen beizutragen, zu heilen, was noch zu heilen ist. Richtlinien
zu erstellen, die dazu beitragen, dass eine Prävention wirklich greift, damit wir
in Treue unsere Berufung leben können.“
Auf Ihrem Abtring stehen das erste
und das letzte Wort der Benediktregel „Ausculta et pervenies“ – zu deutsch „Höre und
du wirst ankommen“. Dieser Leitspruch stammt vom Heiligen Benedikt. Was meinte der
Heilige Benedikt mit diesen Worten? Und sind sie noch gültig?
„Es ist das
erste und letzte Wort der Benediktsregel und das war für mich von Anfang an, auch
vor 33 Jahren, als ich zum ersten Mal die Benediktsregel gelesen habe, hat es mir
Eindruck gemacht. Also das ‚Höre und du wirst ankommen’. Und unter Hören versteht
Benedikt nicht nur einfach mit dem Ohr Geräusche wahrnehmen, sondern er meint ‚Neige
das Ohr deines Herzens’, also ganz Ohr sein. Und das ist die Aufforderung, die Gott
an uns richtet, ganz für ihn Ohr zu sein. Für ihn, der sich uns in der Heiligen Schrift,
in den Sakramenten, in den Menschen, in Situationen zu erkennen gibt. Und Ankommen
durfte ich immer wieder erfahren, dass mir dann Begegnungen mit Gott geschenkt wurden,
zusammen mit vielen Menschen.“
In Ihrer Schrift „Miteinander die Glut unter
der Asche entdecken“ – im Vatikan liegt die italienische Ausgabe auf der Bestsellerliste
– plädieren Sie dafür, dass sich die katholische Kirche zu den heutigen Problemen
stellen soll. Der Zustand der Kirche sei dramatisch, sagen Sie. Nennen Sie uns bitte
kurz die wichtigsten Punkte davon.
„Ich möchte nur schon beginnen mit der
Wahrnehmung der Kirche. Viele Menschen sehnen sich nach Leben, sind in großer Not,
suchen Hilfe und vielen Menschen würde es nicht einfallen, zur Kirche zu kommen in
ihrer Not. Und das ist dramatisch, weil wir als Kirche sollten gerade wahrgenommen
werden als eine Gemeinschaft, die mitträgt, die eine Botschaft hat, die gerade für
Menschen in dieser Situation ist. Und wenn ich im Evangelium höre, dass praktisch
Tag für Tag, dass Menschen hören, dass Jesus vorbei geht und sie rufen und sie wollen
ihn sehen, sie steigen sogar auf einen Baum, um ihn zu sehen, muss man sagen, das
müsste unsere Berufung als Kirche sein, dass wir wahrgenommen werden als eine Gemeinschaft,
die mit den Menschen unterwegs ist.“
Ihre Denkschrift ist in der Tat beeindruckend,
Herr Abt. Viele Dinge sagt Papst Franziskus, wenn auch vielleicht mit anderen Worten,
ja auch. Fühlen Sie sich durch diesen Papst bestätigt? Sind seine Worte und Gesten
Wind in Ihren Segeln?
„Ich habe in den vergangenen zwölf Jahren, wenn ich
hier in Rom war, immer jeden Tag mindestens eine Stunde gebetet beim Grab von Johannes
XXIII. Und ich habe Gott gebeten, um einen Papst, der Zeichen setzt, der die Menschen
wieder auf die Kirche und auf das, was Kirche ist, aufmerksam machen kann. Der nahe
ist bei den Menschen, wie damals Johannes XXIII. Und als am 23. März 2013 Papst Franziskus
sich auf der Loggia präsentiert hat, sich den Menschen zugewandt hat, habe ich gemerkt,
mein Gebet ist in Erfüllung gegangen. Und das, was er sagt, also ich hätte mir nicht
Schöneres wünschen können, was der Kirche passieren kann.“
In Ihrem Buch
verweisen Sie aber auch auffallend oft auch auf Papst Benedikt XVI. und seine theologische
Weisheit und Weitsicht. Kann man sagen, dass Ihre Schrift zum Teil auch durch Papst
Benedikt angeregt wurde?
„Ganz klar. Vor allem durch sein Schreiben ‚Porta
fidei’, das er im Oktober 2011 veröffentlicht hat und das für mich wirklich ein prophetisches
Schreiben ist. Es ist auch ein sehr persönliches Schreiben. Tragisch war für mich
immer wieder, dass das, was er als großer Theologe schon in den 60er Jahren, 70er
Jahren gesagt hat, dass das in seinem Amt nicht rüber kam. Und dass er sehr oft vereinnahmt
wurde von Kreisen, die gerade daran interessiert sind, dass die Kirche sitzen bleibt.“
Warum
haben Sie Ihrem Buch diesen Titel gegeben, „Miteinander die Glut unter der Asche entdecken“?
Was ist die Asche, was ist das Feuer in der Kirche von heute?
„Zum Titel
bin ich gekommen über das letzte Interview, das Kardinal Carlo Maria Martini gegeben
hat im vergangenen Jahr. Und dort spricht er gerade von diesen Erfahrungen und ich
habe gemerkt, dass er genau das, was ich auch so leide darunter, dass Kirche sehr
oft einfach als Asche wahrgenommen wird. Und tatsächlich gibt es viel Asche in der
Kirche, wie es in jeder Gemeinschaft Asche gibt, in jedem persönlichen Leben gibt’s
Asche. Und schlimm ist, wenn diese Asche plötzlich religiös verbrämt wird und man
so tut, als ob das das Heilige sei. Mir war es ein Anliegen, Asche Asche zu nennen
und Glut Glut. Und Glut ist die lebendige Beziehung mit Jesus Christus, Leben aus
dieser Beziehung. Und das heißt aber auch immer wieder, sich überraschen lassen. Und
nicht nur in der Kirche zu singen ‚Sende aus dein Geist und alles wird neu’, sondern
auch das zu leben.“ Carlo Maria Kardinal Martini, jetzt von Ihnen genannt,
meinte kurz vor seinem Tod, die Kirche ist 200 Jahre stehen geblieben. Fehlt der Kirche
das Feuer, die Glut?
„Sehr oft fehlt es in unserem persönlichen Leben, aber
auch der Kirche. Und Papst Franziskus ist mir jetzt schon ein Geschenk Gottes, um
uns wieder auf dieses Feuer aufmerksam zu machen, uns hinzuführen. Wie froh wäre ich,
es würde schon brennen. Wenn wir dazu beitragen können, dass dieses Feuer, das die
Liebe Gottes ist, brennt, dann dürfen wir uns freuen, wenn wir Brandstifter genannt
werden.“
Man nennt Sie auch einen Provokateur, im guten Sinne. Das heißt,
sie benützen als wirksames Ausdrucksmittel gerne die Provokation. Ist das das Feuer,
das Sie im Herzen tragen?
„Jede Begegnung mit Jesus Christus ist eine Provokation.
Schon das Wort ist großartig: ‚Vocatio’ heißt die Berufung, der Ruf. Und Provokation
heißt ‚für die Berufung vorbereiten’, ‚die Berufung provozieren’. Das ist unsere Berufung.
Also wenn ich die Heilige Schrift lese und nicht provoziert werde, dann hab ich nicht
hingehört. Wenn ich einem Heiligen begegne und nicht provoziert werde, dann bin ich
einem Bild eines Heiligen begegnet, aber nicht dem Heiligen selbst.“
Sie
sind als Abt von Einsiedeln zu einer charismatischen Gestalt, sicherlich zu einem
Medienstar geworden. Ist damit irgendwie ein Jugendtraum von Ihnen in Erfüllung gegangen,
Herr Abt?
„Nein. Also mein Jugendtraum war, dass ich meine Berufung lebe.
Ich mag mich auch noch erinnern, so in der Zeit der Primarschule waren für mich Heilige
Vorbilder, heilig zu werden und nicht im Sinn von berühmt werden, sondern das zu leben,
was unsere Berufung ist.“
Sie werden von der Basis der Katholiken im Allgemeinen
mit Begeisterung aufgenommen. Nicht, weil Sie sich etwa gegen die Dogmen der Kirche,
gegen die Hierarchie stellen. Im Gegenteil, wenn man Sie aufmerksam liest, sind Sie
ein Verteidiger der Traditionen der Kirche. Und dennoch gelten Sie in der Öffentlichkeit
als Rebell. Wie erklären Sie sich das?
„Ich erkläre mir das, weil wir die
Tradition sehr wenig kennen. Es gibt so viele Dinge in unserer Tradition, die wir
als Selbstverständlichkeiten nehmen, aber nicht mehr dahinter schauen, uns nicht mehr
bewegen lassen. Also es gibt keinen Heiligen, den wir an einem Tag feiern, wo es einfach
ist, zu sagen, großartig, dass es dich gegeben hat. Das ist immer eine Provokation.
Hildegard von Bingen hat den Mut gehabt, auf Asche aufmerksam zu machen, auch an die
Adressen, denken wir zum Beispiel an den Klerus in Köln, deutlicher wurde, überdeutlicher
wurde, zu richten. Und das schieben wir leicht auf die Seite. Die Gefahr ist groß
und ich habe das auch in einer Predigt gesagt, die Gefahr ist groß, dass unser Glaube
eine Parallelwelt wird. Und dort befinden wir uns, dort fühlen wir uns wohl. Aber
dieser Glaube, wenn er eine Parallelwelt ist, befruchtet die Welt nicht mehr, ist
nicht mehr Sauerteig in der Welt und unser Glaube wird nicht mehr herausgefordert
durch die Welt, durch die Gott ja auch zu uns sprechen will.“
Es gibt
nur eine Kirche und die ist katholisch. Ein Ausspruch von Abt Martin Werlen. Auf den
ersten Blick klingt das nicht gerade ökumenisch oder doch?
„Das ist sehr
ökumenisch. Aber es zeigt auch die Reaktionen darauf, wie wenig wir die Tradition
kennen. Alle christlichen Gemeinschaften sprechen, dass sie glauben, die eine heilige
katholische und apostolische Kirche. Und wenn wir katholisch sofort verwechseln mit
römisch-katholisch, also mit einer Konfession, dann blenden wir eine große und wichtige
Wirklichkeit unseres Glaubens aus. Und dieses Ausblenden zeigt ja gerade, dass wir
uns damit abgefunden haben. Dass es für uns kein Skandal mehr ist, dass wir getrennt
sind. Und das müsste unser größter Skandal sein, den wir als Kirche gerade wahrnehmen
müssen. Johannes XXIII. hat drastisch darauf hingewiesen und Johannes Paul II. in
seinem Schreiben ‚Ut unum sint’, das leider völlig untergegangen ist. Aber wenn man
das Schreiben auch heute wieder liest, auch das ist ein prophetisches Schreiben, und
man sieht und hört in diesem Schreiben auch heraus, dass er gehofft hat, dass im Jahr
2000 viel mehr von dieser einen heiligen katholischen apostolischen Kirche Wirklichkeit
wird.“
Sie sind ein Sprachkünstler, Herr Abt. Durch einen schweren Unfall
haben Sie 2012 die Sprache verloren und Sie mussten wieder Sprechen, Lesen und Schreiben
lernen. Kann man auf Twitter, dessen Anhänger Sie ja sind bekanntlich, tiefe Gedankengänge
verständlich zum Ausdruck bringen? Wie würde etwa ein Tweet von Ihnen über diese schwere
Schicksalsstunde und deren wunderbare Überwindung zum Beispiel lauten?
„In
Twitter kann man nur 140 Zeichen setzen und das ist wenig. Das ist sehr wenig. Und
es fordert heraus, Dinge auf den Punkt zu bringen. Und das hat mich auch sehr überrascht,
dass eigentlich alle Glaubensformeln, auch im Neuen Testament, in den Paulusbriefen,
in der Apostelgeschichte immer viel kürzer sind als 140 Zeichen. Auch die einzelnen
Teile im Glaubensbekenntnis sind kleiner als 140 Zeichen. Also es ist möglich. Und
wenn ich nicht fähig bin, einen großen Text auf den Punkt zu bringen, dann kann er
noch so lang sein, er wird nicht mehr bewegen. Ich habe einer der ersten Tweets nach
meinem Unfall, also nachdem ich wieder sprechen konnte, was ich geschrieben habe,
war ‚Bin dankbar, dass ich wieder Fahrplan lesen kann und nicht nur Bahnhof verstehe’.
Das ist eines von den Bahngleichnissen, die jetzt im November 2013 herausgekommen
sind und nach einer Woche eine zweite Auflage gedruckt werden musste. Und dort versuche
ich, Erfahrungen aus dem Bahnfahren so auf den Punkt zu bringen, dass sie aber auf
mehr hinweisen. Zum Beispiel ‚Nur wer mit den Menschen unterwegs ist, kann sie auch
verstehen’.“
Sie werden von nun an wieder ein einfacher Benediktinerpater
sein. Wie werden Sie diese Befindlichkeit empfinden?
„Also ich bin im Kloster
Einsiedeln eingetreten als Mönch und das ist meine Berufung. Vor zwölf Jahren haben
mir die Mitbrüder die Aufgabe des Abtes anvertraut. Die hab ich versucht, so gut ich
das nur kann, mit der Gemeinschaft zusammen zu leben. Und jetzt freue ich mich wieder,
dass ich einfach meine Berufung als Mönch leben kann. Und es ist mir ein großes Anliegen,
dass der neue Abt, mein Nachfolger, in mir einen Mitbruder hat, der sich engagiert,
der mit der Gemeinschaft unterwegs ist. Und dass wir als Gemeinschaft Hörende sind
und so hoffentlich auch alle miteinander am Ziel ankommen werden, das die Gemeinschaft
mit Gott und allen Heiligen ist.“