Syrien: „Wir versuchen, keine Wut aufkommen zu lassen“
Sie heißt Giovanna
und ist Italienerin. Aber sie wohnt im Ausland: in Syrien. Und ist dort trotz des
Krieges auch geblieben. Für ein paar Tage war sie jetzt in Rom, Gelegenheit für uns,
sie über den Alltag im Kriegsland Syrien zu befragen: „Das Leben ist in Syrien
für alle sehr schwierig: wegen der Angst, dem Stress und der Armut, die immer breitere
Teile der Bevölkerung betrifft. Die Preise sind gestiegen und gestiegen; die Leute
denken nur noch daran, wie sie an Nahrungsmittel kommen, alles andere ist überflüssig
geworden. In den letzten Tagen zum Beispiel kostete eine Gasflasche nicht weniger
als 18.000 syrische Lire – das entspricht einem guten Monatsgehalt. Rabta – das ist
ein Paket mit acht Scheiben arabischen Brots – kostet fast 800 Lire, letztes Jahr
waren das nur 45 Lire. Die Schulen haben seit kurzem wieder geöffnet, aber ein Schulheft,
das man früher für 100 Lire bekam, kostet jetzt 600.“
Aber dazu kommt natürlich
die Unsicherheit: In vielen Ortschaften oder Stadtvierteln riskiert man dauernd sein
Leben, berichtet Giovanna. „Wenn man aus dem Haus geht, fragt man sich instinktiv:
Ob ich wohl wiederkomme? Das hat Auswirkungen auf die alltäglichen Beziehungen der
Leute untereinander. In diesen zweieinhalb Jahren Konflikt ist es immer schwieriger
und inzwischen fast unmöglich geworden, einmal normal mit anderen zu reden. Die Leute
wollen zwar weiter zusammenleben, aber die Kultur des friedlichen Zusammenlebens der
Syrer ist am Boden. Man muss ja auch sehen, dass der Hass zwischen Sunniten und Alawiten
immer stärker wird. Und die Christen haben allmählich immer mehr Angst vor bewaffneten
terroristischen Gruppen, die offen christenfeindlich sind. Es kann passieren, dass
Christen getötet werden, nur weil sie Christen sind.“
In der
Schule Jesu
Hunderttausende haben deshalb Syrien schon verlassen und
sind in die Nachbarländer geflüchtet. Dabei kann allerdings aus dem Blick geraten,
dass die meisten Syrer bleiben. Viele einfach aus Not – sie könnten nirgends hin.
Einige aber – und zwar auch Christen – bleiben bewußt im Land und trotzen allen Gefahren.
„Sie haben entdeckt, dass es etwas Gutes ist, im eigenen Land zu bleiben, weil
sie da vielleicht so etwas wie Sauerteig sein können. Wir fühlen uns in der Schule
Jesu, der uns ständig wiederholt: Liebt euren Nächsten! Bleibt geeint! Vergebt! Viele
Christen – das ist fast ein Wunder – leben jetzt in Syrien, ohne an sich selbst zu
denken, einfach für die anderen. Sie denken nur an das, was sie konkret tun können:
für den, der sein Haus verloren hat oder seinen Arbeitsplatz. Wir alle versuchen als
Christen, jetzt nicht mit Ressentiments aufzurüsten und keinerlei Wut aufkommen zu
lassen. Dadurch erhalten wir uns auch eine gewisse Normalität.“
Giovanna
bewundert diese einheimischen Christen. Und sie selbst, obwohl Ausländerin, will auch
im Land bleiben. Eine „starke Erfahrung des Evangeliums“ sei das für sie. Aber: „Wenn
man erlebt, wie absurd der Krieg ist und welche Fragen der Tod und die Zerstörung
um einen herum aufwerfen, dann ist die Antwort nie selbstverständlich. Ich muss immer
tief in meinem Herzen oder meinem Geist danach fischen. Dann höre ich den Schrei Jesu
am Kreuz: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Einmal – da hatte es
gerade wieder ein Attentat gegeben – habe ich doch angefangen, mich zu fragen, ob
mein Leben nicht in einer anderen Weltecke mehr Sinn hätte. Aber dann habe ich mir
gesagt: Nein! Du lebst doch, um andere zu lieben, und das wird hier genauso dringend
gebraucht wie woanders. Das hat mich überzeugt, zusammen mit den anderen weiter in
Syrien zu bleiben.“
Syrien war völlig unvorbereitet
Von
innen, aus Syrien, fühlt sich ein Krieg anders an als von außen. In diesen Tagen in
Rom staunt Giovanna über das, was die Medien alles über Syrien berichten. Sie selbst
fühlt sich, sagt sie, „nicht imstande, eine politische Analyse zu liefern“. Sie habe
nur mitbekommen, dass „die überwältigende Mehrheit der Syrer“ auf diesen Konflikt
„völlig unvorbereitet“ war. „Als auf einmal Sicherheit und Frieden ins Wanken gerieten,
da wollten die einen, dass diese Sicherheit und dieser Frieden erhalten blieben –
koste es, was es wolle. Andere dagegen sagten, nein, im Namen der Freiheit, der Reformen
oder noch anderer Interessen muss man das aufs Spiel setzen. Als die Protest-Demonstrationen
losgingen, stand ein großer Teil der Bevölkerung hinter dem Präsidenten, weil sie
in ihm jemanden sah, der Reformen durchführen und eine Anarchie im Land verhindern
konnte. Aber einige haben schon damals erklärt, sie hätten kein Vertrauen ins Regime
– was nicht hieß, dass sie nicht genauso entschieden für die Erhaltung der Einheit
Syriens eintraten.“
Einige Wochen nach Beginn der ersten Demonstrationen
gegen Assad und das Regime habe sich dann herausgestellt, dass „Kräfte von außen“
ins Land gedrungen seien. Das habe das „soziale Gewebe“ durchlöchert und das in Religionsfragen
moderate System erschüttert. „Benachbarte und entferntere Länder haben angefangen,
Waffen und Geld in großen Mengen zu verteilen. Im Lauf des Konflikts kamen dann andere
Interessen auf, darunter das Projekt, Syrien nach fundamentalistischen Vorbildern
zu islamisieren... und auch das wirtschaftliche Projekt, das mit der Produktion von
Gas zusammenhängt.“
Und jetzt kommen Geld und Waffen ...
Was tun für einen Frieden in Syrien? Giovanna hat da auch keine schnelle
Lösung parat. Man müsste irgendwie einen Waffenstillstand durchsetzen und ehrliche
Verhandlungen aller am Konflikt Beteiligten ins Rollen bringen, sagt sie. Auch der
Westen dürfe nicht heimlich denken, dass sich durch Krieg irgendetwas lösen lasse.
„Man müsste vielleicht auch eine gewisse intellektuelle Faulheit aufbrechen, die
uns zufrieden sein lässt mit den Infos, die man uns vorsetzt, ohne dass wir das hinterfragen
oder vertiefen! Syrien braucht humanitäre Hilfen, aber auch solche Gebete wie das
auf dem Petersplatz. Ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, was dieser Tag des Fastens
und Betens, den der Papst am 7. September durchführte, für Syrien bedeutet hat. Auf
einmal brach Hoffnung aus! Ein muslimischer Kollege von mir sagte: Wir haben heute
gelernt, wie die Christen durch das Gebet Krieg führen gegen den Hass. Und dass sie
es für möglich halten, durch Gebet zu Frieden zu kommen.“