Die Deutschen kamen
im Morgengrauen und nahmen alle mit, die auf ihrer Liste standen. Vor 70 Jahren, am
16. Oktober 1943, fand die große Judenrazzia in Rom statt. 1.024 Menschen wurden nach
Auschwitz deportiert. Nur 16 kamen zurück. Mindestens 5.000 römische, italienische
und ausländische Juden fanden derweil in Klöstern und anderen Kircheneinrichtungen
Schutz. Es war Papst Pius XII. selbst, der die Öffnung dieser Einrichtungen anordnete.
Elvira Di Cave ist Beiratspräsidentin der Jüdischen Gemeinde Roms und Oberärztin am
Jüdischen Krankenhaus der Stadt. Sie erinnert sich folgendermaßen an den „schwarzen
Samstag" vor 70 Jahren:
„Der 16. Oktober 1943 war der letzte Tag von Sukkot,
dem Laubhüttenfest. Und es war Sabbat. Um 5:15 Uhr an jenem Morgen, es war ein regnerischer
Tag, kamen die Deutschen mit Lastwagen und blockierten alle Zugangswege zum alten
Ghetto. Sie begannen in die Luft zu schießen, um 5:30 Uhr drangen sie ein und es
begann die eigentliche Razzia. In der Via della Luce 3, unweit des Portico di Ottavia
wurde meine ganze Familie mit Ausnahme meines Vaters gefasst: Mein Großvater, meine
Großmutter, meine Tanten sowie ein Neugeborenes und ein dreijähriges Mädchen, meine
Cousinen. Mein Vater verfiel jedes Jahr vor dem 16. Oktober in ein Schweigen, das
mehrere Tage dauerte. Ihm war natürlich verboten worden, zur Schule zu gehen. Alle
Rechte, die Bürger haben, waren den Juden genommen worden, angefangen vom Verbot,
Handel zu treiben.“
Mit ihren Rassengesetzen von 1938 hatten die Faschisten
die Juden vom Rest der italienischen Bevölkerung abgesondert. Die Nationalsozialisten
führten den Schlag aus, der ohne eine solche Vorbereitung nicht möglich gewesen wäre.
Für die Razzia war eine eigens aus Deutschland abkommandierte Sonderabteilung mit
300 Kräften zuständig. Die römische Quästur stellte 20 Polizisten als Helfer ab. 1.259
Juden - Männer, Frauen, Kinder und Greise - wurden auf dem Platz Portico di Ottavia
hinter der Synagoge zusamengetrieben. Nach und nach brachten Lastwagen sie ins Collegio
Militare am Tiber, unweit des Vatikans. Zwei Tage blieben sie dort, zwei Tage, in
denen die Deutschen mehr als 200 ihrer Gefangenen wieder freiließen. Die übrigen,
exakt 1.024, wurden am 18. Oktober 1943 am Bahnhof Tiburtina in versiegelte Züge verfrachtet
und nach Auschwitz deportiert. Keines der Kinder überlebte. Nur 15 Männer und eine
Frau kehrten aus der Hölle nach Rom zurück.
„Die Wiedereingliederung der
Überlebenden war ziemlich dramatisch. Als die Leute zurückkehrten, erzählten sie nicht
sofort, was sie gesehen hatten, weil sie nicht davon ausgehen konnten, dass man ihnen
glauben würde. Das ist die große Sorge der Holocaust-Leugner: die Erzählung, das Zeugnis.
Wenn einmal alle Augenzeugen tot sind, bleiben nur die erzählten Erinnerungen, die
Kinder und Kindeskinder oder Historiker gesammelt haben, um das Gedenken an die Shoah
aufrecht zu erhalten, die nicht nur die Juden betraf, sondern die ganze Welt, die
ganze Welt der Ausgegrenzten und der Andersartigen.“
Vor wenigen Tagen
starb in Rom der Nazi-Kriegsverbrecher Erich Priebke. Er wurde 100 Jahre alt. Im März
1944 war der SS-Hauptsturmführer Priebke Handlanger bei der Ermordung von 335 Geiseln,
darunter 75 Juden, in den sogenannten Ardeatinischen Höhlen südlich von Rom. Der Tod
des Altnazis, der niemals Reue für seine Tat zeigte, beeinflusste die Gedenkfeiern
für den 16. Oktober nicht, sagt Elvira Di Cave.
„Für uns ist mit Priebke
einer der Henker gestorben, die versuchten, das jüdische Volk auszurotten. Aber das
jüdische Volk ist noch anwesend, die Jungen sind anwesend und erinnern sich an das
Vergangene, um eine Zukunft zu haben.“
Über Erinnerung und Holocaust-Gedenken
sprach auch Papst Franziskus in seiner Botschaft an die jüdische Gemeinde von vergangener
Woche. Der 70. Jahrestag der römischen Judendeportation, so schrieb der Papst, „könnte
als eine Erinnerung der Zukunft begriffen werden, als Appell an die jungen Generationen,
die eigene Existenz nicht zu verflachen und sich nicht von Ideologien mitreißen zu
lassen, niemals das Böse zu rechtfertigen, niemals die Wachsamkeit gegenüber Antisemitismus
und Rassismus aufzugeben, woher immer sie kommen mögen.“ In der jüdischen Gemeinde
als Adressatin hat diese päpstliche Botschaft erfreute Aufnahme gefunden.
„Ich
bin ganz einverstanden mit Papst Franziskus. Ich hatte das Glück, ihn dreimal zu treffen,
und er hat sozusagen meine Erwartungen nie enttäuscht. Die Worte des Papstes waren
die Worte eines Mannes, der Wert auf die Geschichte legt, so wie wir es tun. Wir müssen
zusammenarbeiten. Nicht nur dürfen wir nicht vergessen: Wir müssen alles tun, damit
das Geschehene nie wieder geschieht, weder den Juden noch allen anderen Diskriminierten.“