Wieder einmal sorgt
der neue Papst für eine Überraschung: Papst Franziskus hat mit dem bekannten italienischen
Intellektuellen Eugenio Scalfari am 24. September im Vatikan ein langes Gespräch geführt.
Ein Transkript dieses Dialogs veröffentlicht der Nichtglaubende Scalfari in der von
ihm gegründeten Tageszeitung „La Repubblica“ an diesem Dienstag. Erst unlängst war
ein Briefwechsel zwischen Scalfari und Papst Franziskus zum Thema Glauben und Nichtglauben
bekannt geworden. Wir veröffentlichen hier die wichtigsten Auszüge aus dem Papst-Interview
in unserer eigenen Übersetzung. Hinzufügungen in Klammern stammen vom Übersetzer.
*
Die größten Übel heute „Die schlimmsten Übel, die die Welt in diesen Jahren
heimsuchen, sind die Jugendarbeitslosigkeit und die Einsamkeit, der man die Alten
überlässt. Die alten Menschen brauchen Pflege und Gesellschaft, die Jungen brauchen
Arbeit und Hoffnung, doch sie haben weder das eine noch das andere und suchen deshalb
noch nicht einmal mehr danach. Sie werden von der Gegenwart erdrückt. Sagen Sie mir:
Kann man so leben, von der Gegenwart erdrückt? Ohne Erinnerung an das Vergangene und
ohne den Wunsch, sich für die Zukunft etwas aufzubauen, eine Familie etwa? Kann man
so weitermachen? Das ist aus meiner Sicht das dringendste Problem, das die Kirche
vor sich sieht... Diese Situation verletzt nämlich nicht nur die Körper, sondern auch
die Seelen. Und für beides muss sich die Kirche verantwortlich fühlen.“
*
Gut und Böse „Proselytismus ist eine Riesendummheit, er hat gar keinen
Sinn. Man muss sich kennenlernen, sich zuhören und das Wissen um die Welt um uns vermehren...
Die Welt ist durchzogen von Straßen, die uns voneinander entfernen oder die uns näher
zusammenbringen, aber das Entscheidende ist, dass sie uns zum Guten hinführen... Jeder
von uns hat seine Sicht des Guten und auch des Bösen. Wir müssen ihn dazu anregen,
sich auf das zuzubewegen, was er als das Gute erkannt hat... Das würde schon genügen,
um die Welt zu verbessern... Die Liebe zum Anderen, die unser Herr gepredigt hat,
ist kein Proselytismus, sondern Liebe. Liebe zum Nächsten, ein Sauerteig, der auch
dem Gemeinwohl dient.“
* Brüderlichkeit „Der Sohn Gottes ist
Mensch geworden, um in den Seelen der Menschen das Gefühl der Brüderlichkeit zu wecken.
Alle Brüder, alle Kinder Gottes. Abba, wie er den Vater anrief. Ich bahne euch den
Weg, sagte er. Folgt mir, und ihr werdet den Vater finden und werdet alle seine Kinder
sein...“
* Kurie „Die Führer der Kirche waren oft narzisstisch,
von Schmeichlern umgeben und von ihren Höflingen zum Üblen angestachelt. Der Hof ist
die Lepra des Papsttums... An der Kurie gibt es manchmal Höflinge, aber insgesamt
ist die Kurie etwas Anderes. Sie ist eine Art Intendanz, sie verwaltet die Dienste,
die der Heilige Stuhl braucht. Aber sie hat einen Nachteil: Sie ist Vatikan-zentriert.
Sie sieht und pflegt die Interessen des Vatikans, die immer noch zu großen Teilen
weltliche Interessen sind. Diese Vatikan-zentrierte Sicht vernachlässigt die Welt,
die uns umgibt. Ich teile diese Sicht nicht, und ich werde alles tun, um sie zu ändern.
Die Kirche ist - oder sie sollte es wieder sein! - eine Gemeinschaft des Volkes Gottes,
in der Priester, Pfarrer, Bischöfe als Hirten im Dienst am Volk Gottes stehen. Das
ist die Kirche; nicht zufällig ist das ein anderes Wort als Heiliger Stuhl. Dieser
hat eine wichtige Funktion, steht aber im Dienst der Kirche. Ich hätte nie vollen
Glauben an Gott und an seinen Sohn haben können, wenn ich nicht in der Kirche aufgewachsen
wäre, und ich hatte in Argentinien das Glück, mich in einer Gemeinschaft zu finden,
ohne die ich nicht zum Bewusstsein meiner selbst und meines Glaubens gefunden hätte.“
*
Befreiungstheologie „Viele ihrer Exponenten waren Argentinier... Sicher
gaben sie ihrer Theologie politische Folgerungen, aber viele von ihnen waren Gläubige
und hatten eine hohe Vorstellung von Menschlichkeit.“
* Antiklerikale „Das
passiert mir auch: Wenn ich einen Klerikalen vor mir habe, werde ich schnurstracks
antiklerikal. Klerikalismus sollte eigentlich nichts mit dem Christentum zu tun haben.
Der heilige Paulus, der als Erster zu den Heiden und den Glaubenden anderer Religionen
gesprochen hat, hat uns das als Erster gelehrt...“
* Lieblingsheilige „Der
heilige Paulus hat die Grundsteine unserer Religion und unseres Credo gelegt. Man
kann ohne ihn kein bewusster Christ sein. Er übersetzte die Predigt Christi in eine
Lehrstruktur, die auch ... nach 2.000 Jahren noch aufrecht steht. Und dann Augustinus,
Benedikt und Thomas (von Aquin) und Ignatius. Und natürlich Franziskus... Ignatius
ist verständlicherweise der, den ich besser als die anderen kenne. Er gründete unseren
Orden. Ich erinnere Sie daran, dass aus diesem Orden auch (Kardinal) Carlo Maria Martini
kam, der mir und auch Ihnen sehr teuer war. Die Jesuiten waren und sind immer noch
der Sauerteig ... des Katholischen: Kultur, Lehre, missionarisches Zeugnis, Treue
zum Papst. Aber Ignatius ... war auch ein Erneuerer und ein Mystiker. Vor allem ein
Mystiker... Ich liebe die Mystiker; auch Franziskus war es, in vielen Aspekten seines
Lebens...“
* Konklave „Als mich das Konklave zum Papst wählte,
bat ich vor der Annahme (der Wahl) darum, mich für ein paar Minuten in ein Zimmer
... zurückzuziehen. Mein Kopf war vollkommen leer, und eine große Furcht hatte mich
überkommen. Um sie vorbeigehen zu lassen und mich zu entspannen, habe ich die Augen
geschlossen, und jeder Gedanke verschwand – auch der, die Last abzulehnen, wie übrigens
die liturgische Prozedur das auch erlaubt. Ich schloss die Augen, und alle Furcht
oder Emotionalität war verschwunden. Auf einmal erfüllte mich ein großes Licht – das
dauerte nur einen Moment, aber der kam mir sehr lang vor. Dann verlosch das Licht,
ich erhob mich und ging in das Zimmer, wo die Kardinäle auf mich warteten und der
Tisch, auf dem der Annahme-Akt lag. Ich unterschrieb...“
* Gnade „Wer
nicht von der Gnade berührt wird, kann eine Person ohne Fehl und Angst sein, wie man
so sagt, aber er wird nie wie eine Person sein, die die Gnade berührt hat... –
Zwischenfrage Scalfari:Fühlen Sie sich von der Gnade berührt? – So etwas
kann keiner wissen. Die Gnade gehört nicht zum Bewusstsein, sie ist das Lichtquantum,
das wir in der Seele haben... Auch Sie könnten ganz ohne Ihr Wissen von der Gnade
berührt sein. – Frage Scalfari: Ohne Glauben? Als Nichtglaubender? – Die Gnade
betrifft die Seele. – Scalfari: Ich glaube nicht an die Seele. – Sie glauben
nicht daran, aber Sie haben eine. – Heiligkeit, Sie hatten doch gesagt, Sie wollten
mich nicht bekehren, und ich glaube, es würde Ihnen auch nicht gelingen! – Das
kann man nicht wissen, aber ich habe jedenfalls nicht die Absicht dazu.“
*
Franz von Assisi „Er ist einer der Größten, weil er alles zugleich ist.
Ein Mann der Tat, er gründet einen Orden und gibt ihm Regeln, er zieht umher und ist
Missionar, er ist Dichter und Prophet, er ist Mystiker, ... er liebt die Natur, die
Tiere, die Grashalme auf der Wiese und die Vögel, die am Himmel fliegen, aber vor
allem liebt er die Menschen, die Kinder, die Alten, die Frauen... Er träumte von einer
armen Kirche, die sich um die anderen kümmern würde, ohne an sich selbst zu denken.
Seither sind 800 Jahre vergangen, und die Zeiten haben sich sehr geändert, aber das
Ideal einer missionarischen und armen Kirche bleibt mehr als gültig. Dies ist ja die
Kirche, die Jesus und seine Jünger gepredigt haben.“
* Die Kirche als
Minderheit „Persönlich denke ich, dass es sogar eine Stärke ist, eine Minderheit
zu sein. Wir sollen ja ein Sauerteig des Lebens und der Liebe sein, und Sauerteig
ist eine viel, viel kleinere Menge als die Masse der Früchte, Blumen und Bäume, die
aus diesem Sauerteig entstehen. Unser Ziel ist nicht der Proselytismus, sondern das
Hören auf die Bedürfnisse, Wünsche, Enttäuschungen, Verzweiflungen, auf die Hoffnung.
Wir müssen den jungen Leuten Hoffnung wiedergeben, den Alten helfen, die Zukunft aufschließen,
die Liebe verbreiten. Arm unter den Armen. Wir müssen die Ausgeschlossenen aufnehmen
und den Frieden predigen. Das Zweite Vatikanische Konzil ... hat beschlossen, der
Zukunft mit einem modernen Geist ins Gesicht zu sehen und sich für die moderne Kultur
zu öffnen. Die Konzilsväter wussten, dass Öffnung zur modernen Kultur religiöse Ökumene
bedeutete und Dialog mit den Nichtglaubenden. Seitdem ist sehr wenig in diese Richtung
getan worden. Ich habe die Demut und den Ehrgeiz, es tun zu wollen.“
*
Reformen „Ich bin natürlich nicht Franz von Assisi, und ich habe weder
seine Kraft noch seine Heiligkeit. Aber ich bin der Bischof von Rom und der Papst
der katholischen Welt. Als erstes habe ich entschieden, eine Gruppe von acht Kardinälen
zu ernennen, die meinen Rat bilden sollen. Keine Höflinge, sondern weise Personen,
die von denselben Gefühlen bewegt werden wie ich. Das ist der Anfang dieser Kirche
mit einer nicht nur vertikalen, sondern auch horizontalen Organisation. Wenn Kardinal
Martini davon sprach, dann setzte er den Akzent auf die Konzilien und Synoden, wobei
er genau wusste, wie lang und schwierig die Straße in dieser Richtung zu begehen ist.“
*
Politik „Warum fragen Sie mich danach? Ich habe schon gesagt, dass sich
die Kirche nicht um Politik kümmert... Ich glaube, dass die in der Politik engagierten
Katholiken in sich die Werte der Religion haben, aber (auch) ihr reifes Gewissen und
die Kompetenz zum Umsetzen. Die Kirche wird nie über die Aufgabe hinausgehen, ihre
Werte auszudrücken und zu verbreiten – jedenfalls solange ich hier sein werde... Aber
so war es fast nie (in der Geschichte). Sehr oft war die Kirche als Institution dominiert
von zeitlichen Interessen, und viele Mitglieder und hohe Vertreter der katholischen
Kirche haben noch diese Gefühlslage.“
* Glauben und Nichtglauben „Lassen
Sie mich etwas fragen: Sie als nichtglaubender Laie, woran glauben Sie? Sie sind ein
Schriftsteller und ein Mann des Denkens. Sie werden also an irgendetwas glauben, Sie
werden einen Leitwert haben. Antworten Sie mir nicht mit Worten wie Ehrlichkeit, Suche,
Sorge fürs Gemeinwohl... danach frage ich nicht. Ich frage Sie, was Sie von der Essenz
der Welt, ja des Universums denken. Sie fragen sich doch sicher wie wir alle, wer
wir sind, von woher wir kommen und wohin wir gehen. Selbst ein Kind fragt sich das.
Und Sie? – Scalfari: Ich glaube an das Sein, also an das Gewebe, aus dem die Formen
hervorkommen. – Und ich glaube an Gott. Nicht an einen katholischen Gott, den
gibt es nicht. Gott existiert. Und ich glaube an Jesus Christus, seine Inkarnation...
Das ist mein Sein. Kommt es Ihnen so vor, als wären wir weit auseinander?“