Päpstliches Dokument: Botschaft zum Weltflüchtlingstag
„Migranten und Flüchtlinge: unterwegs zu einer besseren Welt“. Wir dokumentieren hier
die offizielle deutsche Übersetzung der Botschaft von Papst Franziskus zum Weltflüchtlingstag
in voller Länge:
Liebe Brüder und Schwestern,
wie nie zuvor in
der Geschichte erleben unsere Gesellschaften Prozesse weltweiter gegenseitiger Abhängigkeit
und Wechselwirkung, die, obgleich sie auch problematische oder negative Elemente aufweisen,
das Ziel haben, die Lebensbedingungen der Menschheitsfamilie zu verbessern, und zwar
nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer und kultureller Hinsicht.
Jeder Mensch gehört ja der Menschheit an und teilt die Hoffnung auf eine bessere Zukunft
mit der gesamten Völkerfamilie. Aus dieser Feststellung geht das Thema hervor, das
ich für den diesjährigen Welttag des Migranten und Flüchtlings gewählt habe: „Migranten
und Flüchtlinge: unterwegs zu einer besseren Welt“.
Unter den Ergebnissen
der modernen Veränderungen ragt als ein „Zeichen der Zeit“ – so hat Papst Benedikt
XVI. es definiert (vgl. Botschaft zum Welttag des Migranten und Flüchtlings 2006)
– das zunehmende Phänomen der menschlichen Mobilität heraus. Wenn nämlich einerseits
die Migrationen häufig Mängel und Versäumnisse der Staaten und der Internationalen
Gemeinschaft anzeigen, offenbaren sie andererseits auch das Bestreben der Menschheit,
die Einheit in der Achtung der Unterschiede, die Aufnahmebereitschaft und die Gastfreundschaft
zu leben, die eine gerechte Teilung der Güter der Erde sowie den Schutz und die Förderung
der Würde und der Zentralität jedes Menschen erlauben.
Aus christlicher Sicht
besteht auch in den Migrationserscheinungen – wie in anderen Dingen, die den Menschen
betreffen – die Spannung zwischen der von der Gnade und der Erlösung geprägten Schönheit
der Schöpfung und dem Geheimnis der Sünde. Der Solidarität und der Aufnahmebereitschaft,
den Gesten der Brüderlichkeit und des Verständnisses stellen sich Ablehnung, Diskriminierung
und die Machenschaften der Ausbeutung, des Schmerzes und des Todes entgegen. Besorgnis
erregend sind vor allem die Situationen, in der die Migration nicht nur aus Zwang
geschieht, sondern sogar in verschiedenen Formen von Menschenhandel und Versklavung
stattfindet. „Sklavenarbeit“ ist heute gültige Währung! Und doch ist das, was trotz
der zu bewältigenden Probleme, Risiken und Schwierigkeiten viele Migranten und Flüchtlinge
treibt, die Kombination aus Vertrauen und Hoffnung; sie tragen die Sehnsucht nach
einer besseren Zukunft im Herzen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre
Familien und für die Menschen, die ihnen lieb sind.
Was bedingt die Schaffung
einer „besseren Welt“? Dieser Ausdruck spielt nicht naiv auf abstrakte Vorstellungen
oder auf etwas Unerreichbares an, sondern leitet vielmehr zur Bemühung um eine authentische,
ganzheitliche Entwicklung an und zum Handeln, damit es würdige Lebensbedingungen für
alle gibt, damit den Bedürfnissen der einzelnen Menschen und der Familien in rechter
Weise entsprochen wird und damit die Schöpfung, die Gott uns geschenkt hat, geachtet,
bewahrt und gepflegt wird. Der ehrwürdige Diener Gottes Paul VI. beschrieb die Bestrebungen
der Menschen von heute mit diesen Worten: »Freisein von Elend, Sicherung des Lebensunterhalts,
Gesundheit, feste Beschäftigung, Schutz vor Situationen, die seine Würde als Mensch
verletzen, ständig wachsende Leistungsfähigkeit, bessere Bildung, mit einem Wort:
mehr arbeiten, mehr lernen, mehr besitzen, um mehr zu gelten« (Enzyklika Populorum
progressio, 26 März 1967, 6).
Unser Herz sehnt sich nach einem „Mehr“,
das nicht einfach ein Mehr an Wissen oder an Besitz ist, sondern vor allem bedeutet,
mehr zu sein. Man kann die Entwicklung nicht auf das bloße Wirtschaftswachstum reduzieren,
das häufig verfolgt wird, ohne auf die Ärmsten und die Schutzlosesten Rücksicht zu
nehmen. Die Welt kann nur besser werden, wenn die Hauptaufmerksamkeit dem Menschen
gilt, wenn die Förderung der Person ganzheitlich angelegt ist und alle ihre Dimensionen
betrifft, einschließlich der geistigen; wenn niemand vernachlässigt wird, auch nicht
die Armen, die Kranken, die Gefangenen, die Bedürftigen, die Fremden (vgl. Mt
25,31-46); wenn man dazu fähig ist, von einer Wegwerf-Mentalität zu einer Kultur der
Begegnung und der Aufnahme überzugehen.
Migranten und Flüchtlinge sind keine
Figuren auf dem Schachbrett der Menschheit. Es geht um Kinder, Frauen und Männer,
die aus verschiedenen Gründen ihre Häuser verlassen oder gezwungen sind, sie zu verlassen,
Menschen, die den gleichen legitimen Wunsch haben, mehr zu lernen und mehr zu besitzen,
vor allem aber mehr zu sein. Die Anzahl der Menschen, die von einem Kontinent zum
anderen ziehen, wie auch derer, die innerhalb ihrer Länder und ihrer geographischen
Gebiete einen Ortswechsel vornehmen, ist eindrucksvoll. Die augenblicklichen Migrationsströme
sind die umfassendsten Bewegungen von Menschen –wenn nicht von Völkern –, die es je
gegeben hat. Mit Migranten und Flüchtlingen unterwegs, bemüht sich die Kirche, die
Ursachen zu verstehen, die diese Wanderungen auslösen. Zugleich arbeitet sie aber
auch daran, die negativen Folgen der Wanderbewegungen zu überwinden und ihre positiven
Auswirkungen auf die Gemeinschaften an den Herkunfts-, Durchreise- und Zielorten zu
nutzen.
Leider können wir, während wir die Entwicklung zu einer besseren Welt
anregen, nicht schweigen über den Skandal der Armut in ihren verschiedenen Dimensionen.
Gewalt, Ausbeutung, Diskriminierung, Ausgrenzung und Einschränkungen der Grundfreiheiten
sowohl von Einzelnen als auch von Gemeinschaften sind einige der Hauptelemente der
Armut, die überwunden werden müssen. Vielmals kennzeichnen gerade diese Aspekte die
Migrationsbewegungen und verbinden Migration mit Armut. Auf der Flucht vor Situationen
des Elends oder der Verfolgung, um bessere Aussichten zu finden oder mit dem Leben
davonzukommen begeben sich Millionen von Menschen auf Wanderung, und während sie auf
die Erfüllung ihrer Erwartungen hoffen, stoßen sie häufig auf Misstrauen, Verschlossenheit
und Ausschließung und werden von anderen, oft noch schwereren Formen des Unglücks
getroffen, die ihre Menschenwürde verletzen.
Die Wirklichkeit der Migrationen
verlangt in den Dimensionen, die sie in unserer Zeit der Globalisierung annimmt, eine
neue angemessene und wirksame Art der Handhabung, die vor allem eine internationale
Zusammenarbeit und einen Geist tiefer Solidarität und ehrlichen Mitgefühls erfordert.
Wichtig ist die Zusammenarbeit auf den verschiedenen Ebenen, unter gemeinsamer Anwendung
der normativen Mittel, welche den Menschen schützen und fördern. Papst Benedikt XVI.
hat die Koordinaten dafür umrissen, als er betonte: »Eine solche Politik muss ausgehend
von einer engen Zusammenarbeit zwischen Herkunfts- und Aufnahmeländern der Migranten
entwickelt werden; sie muss mit angemessenen internationalen Bestimmungen einhergehen,
die imstande sind, die verschiedenen gesetzgeberischen Ordnungen in Einklang zu bringen
in der Aussicht, die Bedürfnisse und Rechte der ausgewanderten Personen und Familien
sowie zugleich der Zielgesellschaften der Emigranten selbst zu schützen« (Enzyklika
Caritas in veritate, 19. Juni 2009, 62). Gemeinsam für eine bessere Welt zu
arbeiten, erfordert die gegenseitige Hilfe unter den Ländern, in Bereitschaft und
Vertrauen, ohne unüberwindliche Hürden aufzubauen. Eine gute Synergie kann für die
Regierenden eine Ermutigung sein, den sozioökonomischen Ungleichgewichten und einer
ungeregelten Globalisierung entgegenzutreten, die zu den Ursachen von Migrationen
gehören, in denen die Menschen mehr Opfer als Protagonisten sind. Kein Land kann den
Schwierigkeiten, die mit diesem Phänomen verbunden sind, alleine gegenübertreten;
es ist so weitreichend, dass es mittlerweile alle Kontinente in der zweifachen Bewegung
von Immigration und Emigration betrifft.
Es ist überdies wichtig hervorzuheben,
dass diese Zusammenarbeit bereits mit der Anstrengung beginnt, die jedes Land unternehmen
müsste, um bessere wirtschaftliche und soziale Bedingungen in der Heimat zu schaffen,
so dass für den, der Frieden, Gerechtigkeit, Sicherheit und volle Achtung der Menschenwürde
sucht, die Emigration nicht die einzige Wahl darstellt. Arbeitsmöglichkeiten in den
lokalen Volkswirtschaften zu schaffen, wird außerdem die Trennung der Familien vermeiden
und den Einzelnen wie den Gemeinschaften Bedingungen für Stabilität und Ausgeglichenheit
garantieren.
Schließlich gibt es im Blick auf die Wirklichkeit der Migranten
und Flüchtlinge noch ein drittes Element, das ich auf dem Weg des Aufbaus einer besseren
Welt hervorheben möchte: die Überwindung von Vorurteilen und Vorverständnissen bei
der Betrachtung der Migrationen. Nicht selten löst nämlich das Eintreffen von Migranten,
Vertriebenen, Asylbewerbern und Flüchtlingen bei der örtlichen Bevölkerung Verdächtigungen
und Feindseligkeiten aus. Es kommt die Angst auf, dass sich Umwälzungen in der sozialen
Sicherheit ergeben, dass man Gefahr läuft, die eigene Identität und Kultur zu verlieren,
dass auf dem Arbeitsmarkt die Konkurrenz geschürt wird oder sogar dass neue Faktoren
von Kriminalität eindringen. Auf diesem Gebiet haben die sozialen Kommunikationsmittel
eine sehr verantwortungsvolle Rolle: Ihre Aufgabe ist es nämlich, feste, eingebürgerte
Vorurteile zu entlarven und korrekte Informationen zu bieten, wo es darum geht, den
Fehler einiger öffentlich anzuklagen, aber auch, die Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit
und Seelengröße der Mehrheit zu beschreiben. In diesem Punkt ist ein Wandel der Einstellung
aller gegenüber den Migranten und Flüchtlingen notwendig; der Übergang von einer Haltung
der Verteidigung und der Angst, des Desinteresses oder der Ausgrenzung – was letztlich
genau der „Wegwerf-Mentalität“ entspricht – zu einer Einstellung, deren Basis die
„Kultur der Begegnung“ ist. Diese allein vermag eine gerechtere und brüderlichere,
eine bessere Welt aufzubauen. Auch die Kommunikationsmittel sind aufgerufen, in diese
„Umkehr der Einstellungen“ einzutreten und diesen Wandel im Verhalten gegenüber Migranten
und Flüchtlingen zu begünstigen.
Ich denke daran, wie auch die Heilige Familie
von Nazareth am Anfang ihres Weges die Erfahrung der Ablehnung gemacht hat: Maria
»gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in
eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war« (Lk 2,7). Ja, Jesus,
Maria und Joseph haben erfahren, was es bedeutet, das eigene Land zu verlassen und
Migranten zu sein: Vom Machthunger des Herodes bedroht, waren sie gezwungen, zu fliehen
und in Ägypten Zuflucht zu suchen (vgl. Mt 2,13-14). Aber das mütterliche Herz
Marias und das aufmerksam fürsorgliche Herz Josephs, des Beschützers der Heiligen
Familie, haben immer die Zuversicht bewahrt, dass Gott einen nie verlässt. Möge auf
ihre Fürsprache dieselbe Gewissheit im Herzen des Migranten und des Flüchtlings immer
unerschütterlich sein.
In der Erfüllung des Auftrags Christi, »Geht zu allen
Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern«, ist die Kirche berufen, das Volk
Gottes zu sein, das alle Völker umfasst und allen Völkern das Evangelium verkündet,
denn dem Gesicht eines jeden Menschen ist das Angesicht Christi eingeprägt! Hier liegt
die tiefste Wurzel der Würde des Menschen, die immer zu achten und zu schützen ist.
Nicht die Kriterien der Leistung, der Produktivität, des sozialen Stands, der ethnischen
oder religiösen Zugehörigkeit begründen die Würde des Menschen, sondern die Tatsache,
dass er als Gottes Abbild und ihm ähnlich erschaffen ist (vgl. Gen 1,26-27),
und mehr noch, dass er Kind Gottes ist; jeder Mensch ist Kind Gottes! Ihm ist das
Bild Christi eingeprägt! Es geht also darum, dass wir als Erste und dann mit unserer
Hilfe auch die anderen im Migranten und im Flüchtling nicht nur ein Problem sehen,
das bewältigt werden muss, sondern einen Bruder und eine Schwester, die aufgenommen,
geachtet und geliebt werden müssen – eine Gelegenheit, welche die Vorsehung uns bietet,
um zum Aufbau einer gerechteren Gesellschaft, einer vollkommeneren Demokratie, eines
solidarischeren Landes, einer brüderlicheren Welt und einer offeneren christlichen
Gemeinschaft entsprechend dem Evangelium beizutragen. Die Migrationen können Möglichkeiten
zu neuer Evangelisierung entstehen lassen und Räume öffnen für das Wachsen einer neuen
Menschheit, wie sie im Ostergeheimnis angekündigt ist: eine Menschheit, für die jede
Fremde Heimat und jede Heimat Fremde ist.
Liebe Migranten und Flüchtlinge,
verliert nicht die Hoffnung, dass auch euch eine sicherere Zukunft vorbehalten ist;
dass ihr auf euren Wegen einer ausgestreckten Hand begegnen könnt; dass es euch geschenkt
wird, die brüderliche Solidarität und die Wärme der Freundschaft zu erfahren! Euch
allen sowie denen, die ihr Leben und ihre Energie der Aufgabe widmen, euch zur Seite
zu stehen, verspreche ich mein Gebet und erteile ich von Herzen den Apostolischen
Segen.