2013-09-12 14:08:21

Militärputsch in Chile vor 40 Jahren: Versöhnung ist kein leichtes Wort


In Chile wird in diesen Tagen viel von „Versöhnung“ gesprochen. Doch im Kontext des 40. Jahrestages des Staatsstreiches kommen bei vielen Menschen eher andere Gefühle wieder hoch: Trauer und Leere, Wut und Verzweiflung. In Santiago gingen in diesen Tagen Tausende Menschen auf die Straße, um an die etwa 1.200 Menschen zu erinnern, von denen bis heute jede Spur fehlt – eine offene Wunde für Angehörige und Überlebende bis heute. Radio Vatikan hat mit Landsleuten gesprochen, die die Zeit der Militärdiktatur aus erster Hand kennen.

RealAudioMP3 In einer letzten Rede richtet sich Präsident Salvador Allende am 11. September 1973 an sein Volk: „Liebe Freunde, das ist die letzte Möglichkeit für mich, zu euch zu sprechen. (…) In diesem historischen Moment zahle ich für die Treue meinem Volk gegenüber mit dem Leben. (…) Sozialer Fortschritt kann weder durch Verbrechen noch Macht aufgehalten werden. (…) Lang lebe das chilenische Volk!“

Nach der Machtergreifung durch das chilenische Militär und Allendes Tod sollte eine der schrecklichsten Diktaturen Lateinamerikas beginnen: Während der Militärregierung unter General Augusto Pinochet von 1973 bis 1990 wurden über 3.000 Menschen ermordet, Tausende wurde von Sicherheitskräften und Angehörigen des Militärs gefoltert, viele weitere wurden ins Exil gezwungen. 40 Jahre danach ringt Chile immer noch um die Aufarbeitung der Hypothek aus der Vergangenheit. Viele Zeitzeugen von damals sind heute noch am Leben, unterstreicht der Chilene Luis Badilla Morales, Mitarbeiter bei Radio Vatikan:

„Diese Menschen haben sehr gelitten, sie haben ihre Kinder, Ehemänner und Ehefrauen verloren. Es gibt Familien, die aufgrund des Exils auseinandergerissen wurden, und es gibt solche, die danach aus wirtschaftlichen Gründen ausgewandert sind. Es gibt also einen tiefen Schmerz, fast ein bestimmtes innerliches Leiden, das sich in den Zeitungen und Fernsehprogrammen wiederspiegelt.“

Bis Chile einen Schlussstrich unter dieses düstere Kapitel seiner Geschichte ziehen kann, wird es wohl noch dauern. „Lasst die Traumata der Vergangenheit hinter euch“, forderte Staatschef Sebastián Piñera seine Landsleute anlässlich des 40. Jahrestages des Staatsstreiches auf. Die Tochter des 1973 gestürzten Präsidenten, Isabel Allende, unterstrich allerdings mit Verweis auf die „desaparecidos“, die im Schlund der Diktatur Verschwundenen: „An erzwungene Versöhnung glaube ich nicht“. Chiles Erinnerungspolitik ist im Volk nicht unumstritten; Unmut löst vor allem das bis heute gültige Amnestiegesetz aus, das Straffreiheit für Verbrechen vorsieht, die zwischen 1973 und 1978 begangen wurden. An welchem Punkt der Vergangenheitsbewältigung sieht das Land unser Kollege Luis Badilla?

„Ich glaube, dass es da sehr vorangekommen ist. Denn durch die historischen Studien der auf Pinochet folgenden demokratischen Regierungen konnten – zusammen mit politischen und zivilen Autoritäten sowie den christlichen Kirchen, die in der Verteidigung der Menschenrechte engagiert sind – Daten rekonstruiert werden. Doch das allein bringt wenig, denn der Schmerz ist da, diejenigen sind da, die Papst Franziskus ,Fleisch Christi‘ nennen würde. Wie auch die Bischöfe in diesen 40 Jahren unterstrichen haben: Diesen Schmerz kann man nur mit Wahrheit – möge sie auch schmerzhaft sein – und mit Gerechtigkeit und Versöhnung lindern.“

Wenn die katholische Kirche in Chile heute Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung hochhält, ist das keine Augenwischerei. Während im Nachbarland Argentinien Teile des Klerus den Staatsterrorismus der 1970er und 80er Jahre rechtfertigten, wurde die katholische Kirche im Nachbarland überwiegend zur moralischen Opposition. Der Vatikan zeigte sich nach der Machtergreifung der Militärs in Chile beunruhigt: Erzbischof Giovanni Benelli, damals Substitut im Staatssekretariat, schrieb am 18. Oktober 1973 an US-Außenminister Henry Kissinger, die öffentliche Meinung im Westen gebe die Realität in Chile nach dem Putsch „komplett falsch“ wider, der Papst sei „tief besorgt“. Zu diesem Zeitpunkt war Chiles katholische Kirche im Land selbst schon längst aktiv. Badilla:

„Es waren die Kirchen – vor allem die katholische Kirche –, die für viele Jahre, ja Jahrzehnte, den einzigen realen Zufluchtsort darstellten und die Würde und Rechte der Schwächsten schützten.“

Die chilenische Journalistin und Schriftstellerin Patricia Mayorga kann das bestätigen. Sie hat selbst miterlebt, wie die Luftwaffe am 11. September 1973 in Santiago das Radio Magallanes bombardierte und der Schrecken begann.

„Die katholische Kirche hat damals kurz nach dem Putsch mit dem damaligen Erzbischof von Santiago, dem Salesianer-Kardinal Raul Silva Henriquez, ein Komitee (das ,Ökumenische Komitee für den Frieden‘, Anm. d. Red.) gebildet, dem die christlichen Kirchen und die jüdische Glaubensgemeinschaft beigetreten sind, um den Verfolgten zu helfen. Im Oktober 1973 wurde dann das ,Solidaritäsvikariat‘ gegründet. Es gab an Familien ohne Arbeit und Geld zunächst materielle Hilfe. Diese Hilfe entwickelte sich in der Folgezeit auch zum rechtlichen Beistand, vor allem als man erfuhr, dass Personen verhaftet wurden, und als man von diesen Menschen keinerlei Nachrichten mehr hatte. Einige hat man ja nie wiedergesehen.“

Das „Vikariat der Solidarität“ an der „Plaza de Armas“, dem „Platz der Waffen“, galt damals als Hauptanlaufstelle für die Ofer der Militärdiktatur. Dank der kirchlichen Hilfsarbeit konnten Tausende von Menschen gerettet werden, auch Hinterbliebene erhielten hier Unterstützung und vor allem auch juristische Hilfe: Minutiös wurden Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und man versuchte, Folteropfer auf rechtlichem Wege freizubekommen. Die katholische Kirche gilt aufgrund dieser Arbeit in Chile heute deshalb als einzige Institution des Landes mit einer relativ vollständigen Dokumentation über die Verbrechen der Pínochet-Ära.

(rv/amnesty international/diverse 11.09.2013 pr)








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