2013-09-07 20:27:48

Die Papstpredigt zur Gebetswache


»Gott sah, dass es gut war« (Gen 1,12.18.21.25). Der biblische Bericht vom Beginn der Geschichte der Welt und der Menschheit erzählt uns von Gott, der gleichsam betrachtend auf die Schöpfung blickt, und wiederholt: Es ist gut. Das eröffnet uns den Zugang zum Herzen Gottes und gerade aus dem Innern Gottes empfangen wir seine Botschaft.Wir können uns fragen: Welche Bedeutung hat diese Botschaft? Was sagt diese Botschaft mir, dir, uns allen?

1. Sie sagt uns einfach, dass diese unsere Welt im Herzen und im Sinn Gottes das „Haus der Harmonie und des Friedens“ ist und der Ort, an dem alle ihren Platz finden und sich „daheim“ fühlen können, denn sie ist „gut“. Die gesamte Schöpfung bildet ein harmonisches, gutes Ganzes, aber vor allem die Menschen, die als Abbild Gottes und ihm ähnlich erschaffen sind, bilden eine einzige Familie, in der die Beziehungen von einer wirklichen, nicht nur in Worten erklärten Brüderlichkeit geprägt sind: Der andere, die andere sind der Bruder und die Schwester, denen Liebe gebührt, und die Beziehung zu dem Gott, der Liebe, Treue und Güte ist, wirkt sich auf die Beziehungen zwischen den Menschen aus und trägt Harmonie in die gesamte Schöpfung. Die Welt Gottes ist eine Welt, in der sich jeder für den anderen, für das Wohl des anderen, verantwortlich fühlt. Heute Abend wollen wir – jeder einzelne von uns und wir alle – in unserer Überlegung, im Fasten und im Gebet uns zuinnerst fragen: Ist das nicht eigentlich die Welt, die ich mir wünsche? Ist das nicht die Welt, die wir alle im Herzen tragen? Ist die Welt, die wir wollen, nicht eine Welt der Harmonie und des Friedens in uns selbst – in den Beziehungen zu den anderen, in den Familien, in den Städten, innerhalb und zwischen den Nationen? Und ist die wirkliche Freiheit in der Wahl der einzuschlagenden Wege in dieser Welt nicht die, welche sich am Wohl aller orientiert und von der Liebe geleitet ist?

2. Doch fragen wir uns nun: Ist das die Welt, in der wir leben? Die Schöpfung behält ihre Schönheit, die uns mit Staunen erfüllt, sie bleibt ein gutes Werk. Doch es gibt auch „Gewalt, Spaltung, Auseinandersetzung und Krieg“. Das geschieht, wenn der Mensch, die Krone der Schöpfung, den Horizont der Schönheit und der Güte aus dem Auge verliert und sich in seinem Egoismus verschließt.
Wenn der Mensch nur an sich selber denkt, an die eigenen Interessen, und sich in den Mittelpunkt stellt, wenn er sich von den Götzen der Herrschaft und der Macht betören lässt, wenn er sich an die Stelle Gottes setzt, dann zerstört er alle Beziehungen, richtet er alles zugrunde und öffnet der Gewalt, der Gleichgültigkeit und dem Konflikt Tor und Tür. Genau das will der Abschnitt aus dem Buch Genesis, in dem der Sündenfall des Menschen geschildert wird, uns begreifen lassen: Der Mensch gerät in Konflikt mit sich selbst, bemerkt, dass er nackt ist, und versteckt sich, weil er Angst hat (vgl. Gen 3,10) – Angst vor dem Blick Gottes. Er beschuldigt die Frau, die doch Fleisch von seinem Fleisch ist (vgl. V. 12); er zerbricht die Harmonie mit der Schöpfung und erhebt schließlich die Hand gegen seinen Bruder, um ihn zu töten. Können wir das als einen Übergang von der Harmonie zur „Disharmonie“ bezeichnen? Nein, es gibt keine „Disharmonie“: Entweder herrscht Harmonie, oder man fällt ins Chaos, wo Gewalt, Streit, Auseinandersetzung und Angst herrschen…
Genau in diesem Chaos richtet nun Gott an das Gewissen des Menschen die Frage: »Wo ist dein Bruder Abel?« Und Kain antwortet: »Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?« (4,9). Auch an uns ist diese Frage gerichtet, und auch uns wird es gut tun, uns zu fragen: Bin ich der Hüter meines Bruders? – Ja, du bist der Hüter deines Bruders! Menschsein bedeutet, einander Hüter zu sein! Wenn dagegen die Harmonie auseinander bricht, geschieht eine Metamorphose: Der Bruder, der gehütet und geliebt werden soll, wird zum Gegner, der bekämpft und beseitigt werden muss. Wie viel Gewalt geht von jenem Moment aus, wie viele Konflikte, wie viele Kriege haben unsere Geschichte geprägt! Es reicht, wenn man das Leiden so vieler Brüder und Schwestern sieht. Da geht es nicht um etwas Situationsbedingtes, sondern die Wahrheit ist diese: In jedem Gewaltakt, in jedem Krieg lassen wir Kain wieder aufleben. Wir alle! Und auch heute setzen wir diese Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Brüdern fort, auch heute erheben wir die Hand gegen den, der unser Bruder ist. Auch heute lassen wir uns von den Götzen, vom Egoismus, von unseren Interessen leiten; und dieses Verhalten entwickelt sich weiter: Wir haben unsere Waffen vervollkommnet, unser Gewissen ist eingeschlafen, und wir haben ausgeklügeltere Begründungen gefunden, um uns zu rechtfertigen. Als wäre es etwas Normales, fahren wir fort, Zerstörung, Schmerz und Tod zu säen! Gewalt und Krieg bringen nur Tod, sprechen vom Tod! Gewalt und Krieg sprechen die Sprache des Todes!

3. An diesem Punkt frage ich mich: Ist es möglich, einen anderen Weg einzuschlagen? Können wir aus dieser Spirale des Schmerzes und des Todes aussteigen? Können wir wieder lernen, mit unseren Schritten die Wege des Friedens zu verfolgen? Indem ich unter dem mütterlichen Blick des „Salus popoli romani“, der Königin Friedens, die Hilfe Gottes anrufe, will ich antworten: Ja, es ist für alle möglich! Heute Abend möchte ich, dass wir von allen Enden der Erde aus rufen: Ja, es ist möglich für alle! Mehr noch: Ich möchte, dass jeder von uns – vom Kleinsten bis zum Größten, bis hin zu denen, die berufen sind, die Nationen zu regieren – antwortet: Ja, wir wollen es! Mein christlicher Glaube drängt mich, auf das Kreuz zu schauen. Wie wünschte ich mir, dass für einen Augenblick alle Menschen guten Willens auf das Kreuz schauten! Dort kann man die Antwort Gottes ablesen: Dort wurde auf die Gewalt nicht mit Gewalt reagiert, auf den Tod nicht mit der Sprache des Todes geantwortet. Im Schweigen des Kreuzes verstummt das Getöse der Waffen und kommt die Sprache der Versöhnung, des Verzeihens, des Dialogs und des Friedens zu Wort. Ich möchte heute Abend den Herrn bitten, dass wir Christen, die Brüder und Schwestern der anderen Religionen, alle Menschen guten Willens mit Nachdruck rufen: Gewalt und Krieg sind niemals der Weg des Friedens! Möge ein jeder Mut fassen, auf den Grund seines Gewissens zu schauen und auf jene Stimme zu hören, die sagt: Komm heraus aus deinen Interessen, die dein Herz verengen, überwinde die Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen, die das Herz gefühllos macht, besiege deine Todesargumente und öffne dich dem Dialog, der Versöhnung: Schau auf den Schmerz deines Bruders und füge nicht weiteren Schmerz hinzu, halte deine Hand zurück, baue die Harmonie wieder auf, die auseinander gebrochen ist – und das nicht mit dem Zusammenprall, sondern mit der Begegnung! Möge das Waffenrasseln aufhören! Krieg bedeutet immer das Scheitern des Friedens, er ist immer eine Niederlage für die Menschheit. Mögen die Worte Pauls VI. noch einmal erklingen: »Nicht mehr die einen gegen die anderen, nicht mehr, niemals! … niemals mehr Krieg, niemals mehr Krieg!« (Ansprache an die Vereinten Nationen, 4. Oktober 1965: AAS 57 [1965], 881). »Den Frieden kann man nur mit Frieden durchsetzen – mit jenem Frieden, der nicht losgelöst ist von den Pflichten der Gerechtigkeit, aber genährt wird durch das persönliche Opfer, durch Milde, Barmherzigkeit und Liebe« (Botschaft zum Weltfriedenstag 1976: AAS 67 [1975], 671). Vergebung, Dialog, Versöhnung sind die Worte des Friedens – in der geliebten syrischen Nation, im Vorderen Orient, in der ganzen Welt! Beten wir für Versöhnung und für Frieden, arbeiten wir für Versöhnung und für Frieden und werden wir alle in jedem Umfeld Männer und Frauen der Versöhnung und des Friedens! Amen.


(rv)








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