„Berechtigte Proteste“: Probleme im brasilianischen Bildungs- und Gesundheitswesen
Die Proteste, die
in Brasilien auch bis zum Papstbesuch nicht abrissen, richten sich gegen Korruption
und soziale Ungerechtigkeit, vor allem im brasilianischen Schul- und Gesundheitswesen.
Was sind in diesen Bereichen die größten Mängel aus Sicht der brasilianischen Kirche?
Auf diese Frage antwortete der Don Orione-Missionar Joséph unserer Korrespondentin
Anne Preckel in Rio.
Der 58-jährige Brasilianer arbeitet in Bildungsprojekten
auf den Philippinen, wo die Kongregation eine Missionsstation hat. Er kam zum Weltjugendtag
von Mindanao aus mit einer Jugendgruppe nach Rio. Das brasilianische Bildungssystem
produziere soziale Ungerechtigkeit:
„Es ist vor allem sehr teuer. Man hat
wenig Möglichkeiten zu studieren. Wenn man tagsüber nicht arbeitet, kann man nachts
nicht studieren, weil man das ja alles irgendwie bezahlen muss. Es bräuchte also mehr
Möglichkeiten und Gelegenheiten vor allem für die armen Menschen. Sie bräuchten die
Zeit, um studieren zu können, aber sie arbeiten von morgens bis abends, um sich die
Uni-Kurse leisten zu können. Und die stehen lange nicht allen offen – nur der reichen
Klasse.“
Auch im Gesundheitswesen gebe es eine Zwei-Klassen-Logik: Gesundheit
könnten sich in Brasilien eigentlich nur die Reichen richtig leisten. Dabei sieht
das System auf dem Papier eigentlich einen universellen Zugang aller Bürger zur Gesundheitsversorgung
vor.
„Wenn du nicht eine gute Versicherung hast, kümmert sich keiner um
dich. Und ich denke vor allem an die armen Leute. Es gibt zwar ein nationales Gesundheitssystem,
aber wenn man Gesundheitsversorgung braucht, muss man ein, zwei, drei Monate warten!
So was kann man einfach nicht machen. Die Krankenhäuser sind auch schlecht. Und die
Ärzte wollen nicht in den abgelegenen Gegenden arbeiten, denn sie bekommen zwar ein
gutes Gehalt, aber es fehlen dort die Infrastrukturen.“
Armut und
Krankheit kommen gemeinsam
So ist etwa im Bundesland Maranhão, einem
der ärmsten Brasiliens, die Säuglingssterblichkeit erheblich höher als in São Paulo,
dem reichsten Bundesland. Laut offizieller Vergleichsstatistiken haben Krankheiten
in sozial schwächeren Schichten Brasiliens stärkere Auswirkungen, arme Menschen sind
früher chronisch krank und haben durchschnittlich eine geringere Lebenserwartung.
Pater Joseph machen solche Dinge wütend. Er kann den Unmut vieler Bürger sehr gut
verstehen:
„Die Leute haben ein Recht auf solche Dinge, denn wir zahlen
ja Steuern! Für mich sind diese Demonstrationen der Schrei der Armen. Brasilien
gibt so viel Geld für bestimmte Aktionen aus, doch um die grundlegenden Dinge, die
für jeden garantiert sein sollten, kümmern sie sich nicht. Mehr als Proteste sind
das also die Stimmen des Volkes. Es ist an der Zeit, sie zu erheben – so viel Geld
wird ausgegeben für Sport, die Weltmeisterschaften, schön und gut – aber niemand wird
danach gefragt, wie man dieses Geld gebrauchen soll.“
Ohne die Kirchen
sähe es noch schlimmer aus
„Der Staat kommt seinen Aufgaben nicht nach.“
So nannte der aus Niedersachsen stammende brasilianische Bischof von Obidos, Bernardo
Johannes Bahlmann, diesen Missstand am Freitag im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Die Organisation des Staates funktioniere nur auf dem Papier, so der Geistliche. So
werde in abgelegenen Gegenden wie zum Beispiel in Obidos im Bundesstaat Pará „weder
in das Schulwesen, noch in die Gesundheitsversorgung investiert“. Um das Bildungs-
und Gesundheitswesen wäre es noch viel schlechter bestellt, würde die Kirche nicht
Schulen und Krankenhäuser bauen, so Bahlmann. Pater Joseph geht im Gespräch mit Radio
Vatikan in Rio auf eine weitere Forderung der Protestbewegung ein:
„Das
Transportwesen ist sehr teuer. Vor allem in Rio, in den großen Städten, bezahlt man
eine Menge Geld für die Verkehrsmittel, und die Qualität ist auch nicht so gut.“
Der
Missionar ist fest davon überzeugt, dass die jungen Leute, die aktuell in Brasilien
auf die Straße gehen, um gegen diese Missstände zu protestieren, sich auch mit der
Kirche zusammentun, um ihre Ziele zu erreichen:
„Ja, ich denke schon, denn
unsere Kirche in Lateinamerika war ja sehr stark darin, diese soziale Sicht zu geben
und sich um die Bedürfnisse des Volkes, vor allem der armen Leute, zu kümmern. Und
ich denke, jetzt ist die Zeit gekommen, um in diese Richtung zu gehen. Die jungen
Leute sind jetzt die Kraft!“
Den Weltjugendtag genießt der Pater in vollen
Zügen:
„Es ist so wundervoll (lacht). Man sieht, dass die jungen Leute
Durst nach Gott haben. Für mich ist das der beste Ausdruck des Glaubens. Es geht nicht
nur darum, den Papst zu sehe, um das Event, sondern tief im Herzen gibt es diesen
Durst der jungen Leute nach Gott. Sie suchen nach mehr als nur nach Lösungen nur für
wirtschaftliche Probleme, sie suchen nach Gott. Ich bin sehr glücklich, hier zu sein,
mit ihnen zusammen.“
Hintergrund
Im Rahmen des gesamtgesellschaftlichen
Demokratisierungsprozesses nach der Militärdiktatur gab es in Brasilien Ende der 80er
Jahre eine Strukturreform im Gesundheitswesen, das in ein steuerfinanziertes Versorgungssystem
mit uneingeschränktem Zugang für alle Bürger verwandelt wurde. De Facto haben Armut,
ungleiche Einkommensverteilung und fehlende Infrastrukturen in vielen Gegenden des
Landes zur Folge zur Folge, dass es erhebliche Unterschiede in der tatsächlichen Versorgung
gibt.