Missio-Experte: „Die Türkei steht jetzt am Scheideweg“
Mit der Protestwelle
in einigen türkischen Städten steht das Land an einem „Scheideweg“: Wenn es Erdoğan
jetzt nicht gelingt, die Gesellschaft zusammenzuhalten, könnte das die wachsende Demokratie
in der Türkei um Jahre zurückwerfen. So bewertet der Menschenrechtsreferent des Internationalen
Katholischen Missionswerks missio in Aachen die angespannte Lage. Die Unruhen in mehreren
türkischen Städten haben sich seit vergangenem Freitag ausgeweitet, bei Zusammenstößen
zwischen Polizei und Demonstranten kamen mehrere Menschen ums Leben. Erdoğan müsse
jetzt den Weg des Dialogs suchen, so Christoph Marcinkowski im Interview mit Radio
Vatikan.
„Was wichtig ist, ist ein Premierminister, der die Türken zusammenbringt,
also diese starke Polarisierung von 50 Prozent AKP und den anderen Parteien vermindert,
und der das in die Tat umsetzt, was er versprochen hat. Ich hoffe, dass er in dieser
Linie tätig wird. Die Alternative ist die Zeit vor 2002 mit starken innenpolitischen
Auseinandersetzungen, auch auf der Straße, einem Rechts-links-Schema… Er muss jetzt
das Land zusammenhalten!“
Kern des Unmutes der Demonstranten, die seit
einer Woche in mehreren Städten des Landes auf die Straße gehen, sei der autokratische
Führungsstil des Regierungschefs. Erdoğan war bei den letzten Wahlen mit mehr als
50 Prozent im Amt des Ministerpräsidenten bestätigt worden, er peilt das Präsidentenamt
an. Viele Türken seien heute jedoch von ihm enttäuscht, so Marcinkowski:
„Er
ist ja angetreten mit der Devise, der Ministerpräsident aller Türken zu sein, auch
derjenigen, die ihn nicht gewählt haben. Und was sich jetzt bewahrheitet ist, dass
er der Herausforderung praktisch nicht gerecht geworden ist. Zum Beispiel spricht
er in Statements von ,wir‘ und ,denen‘ – von denjenigen, die der Regierungspartei
AKP nahestehen, und den anderen, die nicht für ihn gestimmt haben.“
Vor
allem in Istanbul, wo sich die Proteste an einem Bauvorhaben der Regierung entzündeten,
hat Erdoğan weniger Rückhalt als in anderen Landesteilen: In der Hochburg der säkularen
Gesellschaft der Türkei hatte der Regierungschef im März laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes
Pew nur 45 Prozent der befragten Bürger hinter sich, landesweit waren es hingegen
62 Prozent. Die aktuellen Proteste werden vor allem von jungen Leuten getragen: Nach
Angaben der Istanbuler Bilgi-Universität sind zwei von drei Mitgliedern der Bewegung
nicht älter als 31 Jahre. Marcinkowski bestätigt dies:
„Das war eigentlich
schon eher die jüngere Generation, die ja auch ein Produkt der letzten zehn Jahre
ist. Also Leute, denen es wirtschaftlich jetzt besser geht, und nicht nur die Mittelschicht.
Denn diese Mittelschicht ist ja stärker ausgeprägt worden durch Erdoğans
Regierung. Die republikanischen Nachkriegsphase der Türkei war nie so stabil, politisch
und auch wirtschaftlich so potent wie unter Erdoğan, das muss man auch
sehen.“
Aus diesem Grund forderten viele Menschen jetzt auch ihre demokratischen
Rechte stärker ein, so der Experte, der glaubt, dass sich der Protest nicht nur auf
die linksgerichteten traditionellen Erdoğan-Kritiker beschränkt. Die Bilgi-Universität
gab derweil bekannt, dass 92 Prozent der Menschen, die an den Protesten teilnehmen,
bei den letzten Wahlen nicht für die Regierungspartei AKP gestimmt hätten. Grundsätzlich
sei die Tatsache, dass sich auf den Straßen der großen Städte der Türkei die Menschen
zu Wort melden, positiv, hält Marcinkowski fest:
„Es ist eigentlich
ein positiver Aspekt auch der Erdoğan-Gesellschaft, dass sich die Zivilgesellschaft
hier äußern kann.“
Marcinkowski erinnert an die Fortschritte, die
das Land unter Erdoğan in verschiedenen Bereichen gemacht habe. Zum Beispiel in der
Kurdenfrage, die heute zumindest kein absolutes Tabu mehr in der Türkei ist: „Man
kann (heute in der Türkei, Anm. d. Red.) Kurdisch auf der Universität lernen. Er hat
sich sehr offen gezeigt in den Anfangsjahren.“
Auch wirtschaftspolitisch
habe der Ministerpräsident die Türkei auf einen guten Weg gebracht: „Er hat versucht,
das staatliche System, das etatistische System, mit der islamisch geprägten Mehrheitsbevölkerung
zu versöhnen, und da ist ihm auch Einiges gelungen, zum Beispiel die Entmachtung des
Militärs, was man ja durchaus als positiv ansehen kann.“
Vor diesem Hintergrund
könne man jetzt auch nicht von einem „türkischen Frühling“ analog zu Entwicklungen
des so genannten „arabischen Frühlings“ sprechen, hält der Beobachter fest: „Die
Türkei hat ein funktionierendes parlamentarisches System, es fehlt eben nur hier und
dort bei der Implementierung dieses Systems.“
Um weiteres Blutvergießen
zu verhindern, sei jetzt der Weg eines Dialoges mit der Protestbewegung unerlässlich,
so Marcinkowski. Staatspräsident Abdullah Gül machte zum Beispiel einen Schritt auf
die Protestierer zu: Er ließ verlauten, die Botschaft der Demonstranten sei bei der
Politik angekommen. Dass Erdoğan einen ähnlichen Weg einschlagen wird, ist allerdings
fraglich: Nach Rückkehr von seiner Auslandsreise sagte er jetzt vor Anhängern seiner
islamisch-konservativen Partei AKP, die Demonstrationen hätten ihre demokratische
Glaubwürdigkeit verloren und sich zum Vandalismus gewandelt. Seit vergangenen Freitag
gingen Zehntausende Menschen in türkischen Städten gegen die Regierung auf die Straße,
drei Menschen starben: zwei Demonstranten und ein Polizist.