Salafisten aus Ägypten
haben im Westen keine besonders gute Presse. Doch der Scheich Hassan Awwad, ein 32-jähriger
Salafist, hat Dutzende, wenn nicht Hunderte von Menschen gerettet: Flüchtlinge aus
Eritrea, die von Menschenhändlern in der ägyptischen Sinai-Wüste festgehalten wurden.
„Die Sache hat 2007 angefangen“, berichtet Scheich Hassan, der zurzeit Gast
der römischen Basisgemeinschaft Sant`Egidio in Rom ist.
„Damals haben Schlepper
angefangen, illegale Einwanderer für etwa 200 Dollar durch den Sinai über die Grenze
nach Israel zu schleusen. Das ging etwa zwei Jahre lang gut, zur Zufriedenheit aller.
Doch dann haben die Schlepper angefangen, die Preise zu erhöhen, und die Afrikaner,
die nach Israel wollten, konnten die Preise nicht zahlen. Daraufhin hat man angefangen,
sie zu foltern! Mit der Zeit sind die Geldforderungen gestiegen – auf 40.000 Dollar
pro Person – und die Folterungen auch. Das Einzige, was die Schlepper interessiert,
ist, dass die Familien der Immigranten – beziehungsweise der Geiseln – diese Summe
zahlen. Sie foltern und schlagen sie, um an dieses Geld heranzukommen.“
Das
Drama der eritreischen oder äthiopischen Flüchtlinge auf dem Sinai ist der westlichen
Öffentlichkeit kaum bekannt. Auch von den Touristen und Pilgern, die das berühmte
Katharinenkloster auf der Sinai-Halbinsel besuchen, weiß kaum einer, dass in ihrer
Nähe Menschen an Ketten gefangengehalten, gefoltert, oft verstümmelt, sogar getötet
werden. Doch Scheich Hassan bekräftigt, dass nicht alle der Beduinen auf dem Sinai
mit den Folterern unter einer Decke steckten. Sein Stamm aus der Nähe von Rafah, wo
ein Grenzübergang nach Israel ist, versucht mit allen Mitteln, Geiseln freizubekommen.
„Wir
sind auf die Sache aufmerksam geworden, als wir Hütten und richtiggehende Gefängnisse
entdeckt haben. Darin fanden wir Verletzte, die wir zu einem Arzt gebracht haben;
danach haben wir sie gefragt, was ihnen denn zugestoßen sei. So erfuhren wir, was
die Menschenhändler auf dem Sinai tun. Wir fragten sie auch: Warum wollt ihr denn
nach Israel, warum flieht ihr aus eurem Land? Sie erzählten uns von der Militärdiktatur
in Eritrea, und dass die Regierung dort alle zu einem sehr harten Militärdienst zwinge.“
Schwer
zu sagen, wie viele der Eritreer in den letzten Jahren auf dem Sinai getötet worden
sind: Schätzungen sprechen von vier- bis fünftausend Todesopfern seit 2008. Nach einigen
Berichten wurden Leichnamen Organe entnommen, um sie weiterzuverkaufen. Die Umwälzungen
in Ägypten haben dafür gesorgt, dass sich die Behörden nicht für das grausame Treiben
der Menschenhändler an der östlichen Landesgrenze interessieren.
„Manchmal
können wir Geiseln direkt aus ihren Gefängnissen befreien; sie werden praktisch in
Hütten mitten in der Wüste festgehalten, meistens unter der Aufsicht eines bewaffneten
Wärters. Einigen gelingt die Flucht, etwa wenn der Wärter schläft; wenn wir sie dann
finden, nehmen wir sie mit und helfen ihnen. Und wenn jemand kommt und sie von uns
zurückfordert, liefern wir sie nicht aus. Das tun wir im Namen Gottes. Alle können
etwas tun, um Menschen in Schwierigkeiten oder Armen zu helfen, wo auch immer!“
Scheich
Hassan Awwad hat die Telefonnummer von Alganesh Fesseha: Das ist die Präsidentin der
Nichtregierungsorganisation Gandhi.
„Wenn er Geiseln gefunden und befreit
hat, dann ruft er mich an und sagt: ‚Alga, ich habe so und so viele Personen hier
im Haus. Ich verstecke sie.’ Dann bitte ich ihn darum, mir Fotos von ihnen zu schicken.
Mit diesen Fotos lasse ich von der UNO die ,yellow card’ vorbereiten, das ist ein
Passierschein. Damit hole ich sie ab und bringe sie nach Kairo, um sie dort im UNO-Büro
zu übergeben. Oft übernachte ich bei Mitgliedern des Stammes, und nachts hole ich
diese Leute dann im Sinai ab.“
Frau Fessehas Erzählungen lassen an die
Geschichte denken, wie der biblische Joseph nach Ägypten verkauft wurde. Die Eritreer
werden in der Regel im Sudan von den „Rashaida“ verschleppt, oft sogar aus Flüchtlingslagern
heraus. Die „Rashaida“ verkaufen ihre menschliche Beute dann an Beduinen in Ägypten
weiter, und die versuchen, soviel Geld wie möglich aus ihren Opfern herauszupressen.
Die Geiselnehmer ließen sich das Geld über „Western Union“ auf Konten in Saudi-Arabien
oder den USA einzahlen. Die Menschen, die aus den Händen dieser Schlepper befreit
würden, hätten oft Furchtbares durchgemacht.
„Der Scheich ruft immer als
erstes einen Arzt und lässt sie medizinisch durchchecken; sie sind wegen der Ketten
voller Wunden, meistens haben sie auch Brandwunden; Frauen und Männer sind vergewaltigt
worden. Bei einigen Mädchen sind die Geschlechtsorgane völlig zerstört; einige sind
in der Gefangenschaft schwanger geworden, und die Babys sind in der Haft gleich gestorben.
Eine 17-Jährige, die versucht hatte, zu fliehen, wurde mit kochendem Wasser überschüttet,
sie hat schwere Verbrennungen davongetragen. Jetzt ist sie in Äthiopien, wir haben
sie befreit!“
Wenn ägyptische Polizisten auf illegale Einwanderer träfen,
dann steckten sie diese einfach ins Gefängnis, so die NGO-Chefin. Dort gebe es keinerlei
medizinischen Beistand. Wenn sie also nicht gerade bei Scheich Hassan befreite Geiseln
abhole, dann versuche sie, Illegale aus einem ägyptischen Gefängnis loszueisen. Wer
befreit wird, kommt nicht nach Israel – sondern nach Äthiopien.
„Das ist
der einzige Staat, der sie als politische oder humanitäre Flüchtlinge akzeptiert.
Ich bin dem Scheich sehr dankbar, weil er eine wirklich gut organisierte Gruppe von
Menschen gebildet hat, die ihm bei der Geiselbefreiung helfen. Und das ist keine einfache
Sache: Man hat ihm schon sein Auto abgefackelt und auf ihn geschossen. Er gehört aber
zu einer der wichtigsten Familien in der Region, die anderen respektieren ihn und
hören auf ihn. Jeden Freitag geht er in die Moscheen, um zu predigen und für diese
armen Flüchtlinge um Hilfe zu bitten. Das ist bewundernswert!“