2013-05-19 08:31:57

Aktenzeichen: Rosi Gollmann - einfach nur Mensch


RealAudioMP3 Als Rosi Gollmann Ende der 50er Jahre ein Zeitungsartikel über die Not indischer Findelkinder in die Hände fällt, macht sie sich auf die Reise ins ferne Indien. Was mit dem Wunsch beginnt, 400 Kindern in Andheri in der Nähe von Bombay zu ihrer „täglichen Handvoll Reis“ zu verhelfen, entwickelt sich im Lauf der Jahre zu einer der erfolgreichsten Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit in Deutschland. Millionen Menschen schenkt Rosi Gollmann - heute bald 86 Jahre alt – durch ihre Andheri-Hilfe die Perspektive auf ein würdiges Dasein und eine selbstbestimmte Zukunft: Rosi Gollmanns persönliches, unkonventionelles und abenteuerliches Leben weckt die Hoffnung, dass eine bessere Welt in der Tat möglich ist. Sie lebt uns vor, wie es gelingen kann: mit Mut, Beharrlichkeit, dem unbeirrbaren Glauben an die gute Sache, an den Herrgott und – ja, und einfach an die Liebe. Aldo Parmeggiani hat mit ihr gesprochen:

Wir sind auf Ihr jüngstes Buch gestoßen, mit dem Titel „ Einfach Mensch – das Unmögliche wagen für unsere Welt“ und ziehen daraus den Schluss: Sie haben Unglaubliches geleistet. Der emeritierte deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagt sogar: was Rosi Gollmann geschafft hat, das ist wirklich ganz ohne Beispiel. Welche sind die Säulen, Frau Gollmann, auf die Sie Ihr Lebenswerk gebaut haben?

„Zuerst einmal möchte ich sagen, sind es die Wurzeln, Wurzeln, die einen tragen. Und da ist es zunächst einmal das Elternhaus gewesen, das mir den christlichen Glauben mitgegeben hat. Dann waren es die harten Erfahrungen der Nazi-Zeit, die furchtbaren Kriegserlebnisse, ja das sind die Wurzeln, die ich in mein reiches Leben mitgenommen habe.“

Sie sprachen eben von Ihrem Elternhaus. Was haben Sie davon mitgenommen auf dem Weg Ihres beeindruckenden Lebens?

„Erst einmal dieser feste Glaube, der christliche Glaube, der im Alltag gelebt wurde, dann aber auch eine wunderbare Freiheit, die uns Kindern gegeben wurde. Das ist ein Fundament, auf das ich nie verzichten möchte, das wirklich mein Leben geprägt hat.“

Aus Ihrem Buch erfährt man, dass Sie Unmögliches geschafft haben: Ob es um die Bekämpfung von Kinderarbeit und Mädchentötung geht oder um die Stärkung von Frauen und Familien durch Kleinkredite, um Blindenhilfe oder Kinderprostitution – Sie sorgten dafür, dass unzählige Menschen ein würdigeres Leben führen können. Was ist das – ganz konkret – die Würde des Menschen?

„Vielleicht darf ich sagen, es ist schon eigenartig, dass es mich stets am meisten bedrückt hat, wenn ein Mensch würdelos behandelt wird – viel mehr noch als die Armut als solche. Das hat mir nie Ruhe gelassen, eigentlich schon von Kindheit an. Denn gerade wir Christen wissen um die Würde des Menschen, die jeder hat und die ihm auch nicht genommen werden kann. Und sich dafür einzusetzen, dass ein Mensch zwar unter einfachen Lebensbedingungen, aber würdevoll leben darf. Das ist eigentlich das große Ziel, das ich immer vor Augen gehabt habe.“

Wer oder was ist Ihnen am engsten zur Seite gestanden bei Ihrer Arbeit?

„Das waren natürlich die vielen, vielen Freunde, das waren meine Schüler, die die ganze Sache mitgetragen haben - ich war ja als Religionslehrerin tätig - das waren die Vielen, die mit offenen Herzen und mit bereiten Händen auf mich zukamen, die mir geholfen haben. Aber was mich am meisten getragen hat, das ist natürlich der Glaube! Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass ich alleine bin. Immer war einer da, der mich getragen hat.“

Die Hoffnung auf eine eigene Familie mussten Sie früh aufgeben – Ihre erste Liebe fand deshalb keine Erfüllung, weil sich Ihr Verlobter schließlich zum Priestertum entschieden hatte. Darauf haben Sie sich für eine weitaus größere Familie und ein eheloses Leben entschlossen....

„Ich musste das nicht aufgeben, sondern ich habe diese Freude in Erwartung auf eine große glückliche Familie freiwillig aufgegeben. Ich hatte sehr früh eine wunderbare Jugendliebe mit einem jungen Mann, der zwei Jahre älter war als ich. Wir hatten uns eine Zukunft erträumt, bis er eines Tages erklärte: ich habe keine Ruhe, ich spüre, Gott will mich haben. Wir haben miteinander gerungen und geweint, bis wir uns beide zu diesem Schritt des ,Ja´ entschlossen haben. Und ich kann nur zusammenfassend sagen, wir sind beide überaus glückliche Menschen geworden. Er glücklicher Priester, strahlend auch heute noch.“

Kommen wir zum nächsten Schritt: Tief erschrocken durch einen Zeitungsartikel über die Not und das Elend indischer Kinder gründeten Sie vor 45 Jahren die Andheri-Hilfe, benannt nach dem indischen Ort Andheri bei Bombay, heute Mumbai. Das war Ihr erster Schritt zur handfesten Nächstenliebe. Der Beginn Ihrer Devise: „Hilfe zur Selbsthilfe.“ Was ist das genau?

„Die Bibel spricht zwar immer wieder von Almosen. Aber wenn wir den einzelnen Berichten der Bibel nachgehen, dann ist es da eigentlich schon erforderlich, dass der Mensch selbst dazu beiträgt. Das wird immer damit ausgedrückt: „Dein Glaube hat dir geholfen“ Glaube aber, der Taten will. Wir lehnen Almosen ab, wir schätzen den Menschen in seiner Würde, wir wissen um seine Rechte, die er hat und wir stülpen ihn nie Projekte über, sondern wir fördern und fordern seinen eigenen Einsatz. Er hat so unendlich viele Fähigkeiten, die er alle einsetzen soll. Und die zu wecken, zum Erfolg zu bringen, das ist eigentlich unser Ziel. Sodass die Menschen nie den Eindruck haben, sie empfangen etwas von oben herab, sie, die Armen da unten, sondern sie sind neben uns, gleichberechtigt. Ja, ich wiederhole: sie haben die Würde, wie jeder Mensch.“

Daraus erfolgte ein kontinuierlicher Entwicklungsprozess: es ging bald nicht mehr um Symptome wie Hunger und Krankheit, sondern um das Hinterfragen der Ursachen. Nach Ihrer Devise „der Mensch kann nicht entwickelt werden, er kann sich nur selbst entwickeln“. Dieses Motto hat sich offensichtlich bewährt. Wo aber, Frau Gollmann, nehmen Sie die ganze Kraft her, dies alles zu bewältigen? Haben Sie mit fast 86 Jahren manchmal auch Ihre Grenzen gespürt?

„Ich muss schon sagen, Grenzen werden einem mitunter gesetzt. Aber, ich habe eigentlich nie aufhören müssen, ich habe nie verzweifeln müssen, wenn ich diese Freundschaft, diese Zuwendung, die ich von so vielen Freunden erfahre, spüre. Und ja wohl auch, dass mir diese Kraft aus dem Glauben kommt. Man ist niemals alleine. Der Glaube ist für mich eine Bindung, die frei macht. Das mag sich widersprüchlich anhören, aber ich bin dadurch frei in meinen Entscheidungen, ich weiß, ich werde getragen und ich brauche mich nicht bis zum Letzten durchzuringen. Und es hat immer in schwierigen Situationen Lösungen gegeben, die manchmal frappierend, manchmal unglaublich waren.“

Wie sieht dieser Glaube von Rosi Gollmann in Wirklichkeit aus? Wenden Sie sich da an Jesus Christus, wenden Sie sich an die Heiligen oder an einen bestimmten Heiligen, wenden Sie sich an die Muttergottes, oder wenden Sie sich an den Herrgott selbst?

(Lacht) „Genau Letzteres. Natürlich respektiere und liebe ich als katholischer Christ die Welt der Heiligen und die Gottesmutter, aber für mich ist der Ansprechpartner, ist der Freund, ist der Partner für mein Leben: Jesus Christus. Ich schau jetzt grade, rechter Seite, da habe ich ein Kreuz hängen, Jesus ohne Arme. Und an Stelle seiner Arme steht der Text: ,Ich habe keine anderen Hände als die euren.´ Das ist mein Prinzip, das ist mein Leben und da bin ich glücklich. Ich bin ein überaus zufriedener Mensch, der nie klagt über die Last, die auf einem liegt, die einem manchmal nachts kaum Zeit zum Schlafen lässt und einem immer wieder neu aufruft zu einer Reise nach Indien und Bangladesch, aber ich bin überaus glücklich, glücklicher könnte ich niemals sein.“

Die Konsequenzen Ihrer vielen Arbeit waren für Sie, dass die Förderung bald nicht mehr allein den notleidenden Kindern in Andheri, sondern erweiterten Zielgruppen galten: behinderten Kindern, unterprivilegierten Frauen, Blindenhilfe, Straßenkindern, Kinderprostitution. Dabei wagten Sie durchaus innovative Ansätze auch außerhalb Andheris in ganz Indien und Bangladesch. Wie funktionieren solche großangesetzten Hilfs-Initiativen?

„Es ist meistens eine Anregung, die einem begegnet - so als ich zum Beispiel das erste Mal 1974 in dem neu gegründeten Staat Bangladesch war. Ich stolperte fast über die vielen Blinden, die am Wege lagen und ich hörte, es gibt keine Hilfe für die vielen erblindeten Menschen, die dazu noch arm sind. Ich kam nach Hause und erklärte unserem Vorstand, wir müssen etwas für die Blinden tun und man hat mich ausgelacht: was willst du mit deiner kleinen Handvoll von Spendern einem solchen Elend entgegentreten, denn es werden mehr als eine Million blinder Menschen sein. Und meine Antwort war: einfach mit dem ersten anfangen. Ich habe damals nicht geahnt, dass aus dem ersten Blinden, dem wir geholfen haben, inzwischen 1.300.000 operierte Binde geworden sind. So ist es eigentlich immer: ich begegne einem Kind im Steinbruch, das mir außer seinen Namen nichts weiter sagen kann, weil es einfach weint. Ich begegne Kindern, die in den Streichholzfabriken in stickiger Schwefelluft arbeiten müssen und mich nur mit großen fragenden Augen anschauen. Ich begegne unterdrückten Frauen, ich begegne weinenden Müttern, weil man gerade ihr neugeborenes Kind umgebracht hat, weil es ein Mädchen ist und man Angst hat vor der späteren Mitgift. Das sind so Anstöße, die dann zur Aktion werden, aber die nie von mir aus gingen. Ich bin es nicht, der das geschaffen hat, sondern es sind die Menschen selbst, die diesen Weg mitgegangen sind.“

In der Tat: Mehrere tausend Projekte konnten in den 45 Jahren seit der Gründung der Andheri-Stiftung erfolgreich abgeschlossen werden. Das heißt: mehr als eine Million Menschen haben bis heute direkt oder indirekt durch Ihre Initiativen Hilfe erfahren. Wie ist dieser Großeinsatz eigentlich auf der politischen Ebene in Deutschland, wie von der Kirche wahrgenommen worden?

„Ich darf korrigieren, es sind mehr als allein eine Million Blinde, aber wenn Sie die Frauen zählen, die wir erfasst haben, das sind nochmals drei Millionen und die vielen Straßenkinder… ich kann sie nicht zählen, die Menschen, denen wir die Hand gereicht haben. Zu Ihrer Frage: die Kirche hat sich immer für diese Aufgabe geöffnet. Ich habe sehr oft und auch heute noch in Kirchen Menschen ansprechen dürfen, um ihre Mithilfe bitten dürfen, und bin da immer herzlich willkommen. Auch zur Regierung habe ich einen guten Draht. Überall tun sich Türen auf, wenn Menschen spüren, da geschieht etwas, da kommen Menschen zu ihren Rechten und zu ihrer Würde.“

Der neue Papst Franziskus spricht sehr häufig von Armut und Hilfe für die Armen. Wie nehmen Sie diese Hinweise und Aufforderungen zur konkreten Unterstützung für arme Leute von dieser Seite auf?

„Ich bin davon überzeugt, dass es der gute Geist Gottes war, der uns diesen neuen Papst geschenkt hat. Denn mit mir schöpfen jetzt ungezählte Menschen neuen Mut. Papst Franziskus hat mit seinem Namen, seinem Wort und seinen Taten schon in diesen ersten Wochen überaus hoffnungsvolle Zeichen gesetzt. Zeichen, die unsere Zeit notwendig braucht. Zeichen, dass Kirche ein Ort der Liebe ist und nicht des Unverständnisses oder gar der Härte. Dass die Kirche das ist, was der Herr Jesus Christus gewollt hat. Eine Kirche, ein Hort, eine Heimat für alle.“

Frau Gollmann: Sie haben das Unmögliche für unsere Welt gewagt. Ihr Lebenswerk ist für Jung und Alt ein kostbares Vermächtnis. Das letzte Wort gehört Ihnen.

„Das letzte Wort kann eigentlich nur ein Dank für mein ganzes Leben sein. Ich bin davon überzeugt, dass mir nicht mehr allzu lange Zeit bleibt mit fast 86 Jahren, aber ich schaue auf dem Ende meines Lebens mit Vertrauen und mit Zuversicht entgegen. Ich bin davon überzeugt, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Dass das Leben mit dem Tod nicht zu Ende ist. Der Tod ist mächtig, aber er ist nicht allmächtig. Und er kann das gelebte Leben nicht antasten. Und ich bin davon überzeugt, dass nicht nur ich einmal weiterleben darf, sondern auch Vieles von dem, was ich mit Hilfe so vieler Menschen und vor allen Dingen mit Hilfe Gottes tun durfte. Es ist kein Ende und dafür kann ich nur danken.“

(rv 19.05.2013 ap)







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