Aktenzeichen: Giovanni Palatucci – der Schindler Italiens
Giovanni Palatucci wurde am 31. März in Montella in der Nähe der süditalienischen
Stadt Avellino geboren – er war ein italienischer Polizeibeamter, Hauptkommissar für
öffentliche Sicherheit und Judenretter. Am 22. Oktober 1944 wurde er aus dem Gefängnis
von Triest in das Konzentrationslager Dachau überstellt, wo er wenige Wochen vor der
Befreiung des Lagers im Alter von 36 Jahren starb. Er war ein Mann zwischen Pflicht
und Gewissen.
1930 leistete Giovanni Palatucci seinen Militärdienst bei Moncalieri.
Er war Mitglied der faschistischen Partei Italiens, studierte Jurisprudenz in Turin
und schloss das Studium 1932 mit dem Doktortitel ab. 1936 wurde er als freiwilliger
Vizekommissar für Öffentliche Sicherheit angestellt. Ein Jahr später wurde er an das
Polizeipräsidium im damals italienischen Fiume in Istrien versetzt, wo ihm zuerst
das Fremdenbüro unterstellt war. Danach wurde er zum Polizeipräsidenten ernannt. In
dieser Position bekam er Einblick in die praktische Umsetzung der Rassengesetze und
die sich daraus ergebende Verfolgung von Juden in Italien. Zur gleichen Zeit war sein
Onkel Giuseppe Maria Palatucci Bischof in Campagna bei Salerno, wo zwei Internierungslager
für jüdische Gefangene eingerichtet wurden. Auf allen möglichen Wegen haben der Polizeibeamte
Giovanni und sein Onkel, der Bischof, versucht,,die Internierten zu unterstützen und
ihre Lebensbedingungen zu verbessern.
In der Funktion des Polizeipräsidenten
versuchte er, den Juden in Fiume zu helfen, soweit es ihm möglich war. Er schrieb
darüber an seine Eltern: „Ich habe die Möglichkeit, ein bisschen Gutes zu tun, und
die Empfänger sind so dankbar. Alles in allem erhalte ich viele Sympathien. Von mir
habe ich ansonsten nichts Besonderes zu berichten.“. Um weiterhin den verfolgten Juden
beistehen zu können, lehnte Giovanni Palatucci die Beförderung und die daraus resultierende
Versetzungen ab.
Im März 1939 konnte er durch rechtzeitige Warnung einem ersten
Kontingent von 800 Juden, das der gefürchteten Gestapo hätte überstellt werden sollen,
die Flucht ermöglichen.
Als nach der Kapitulation im September 1943 Fiume (Rijeka)
in das adriatische Küstenland eingegliedert wurde, wurde auch das Kommando über die
Stadt an den SS-Hauptmann Hoepener übergeben. Obwohl Palatucci in dieser neuen Situation
selbst Gefahr lief, festgenommen zu werden, blieb er auf seinem Posten. Ihm gelang
es, sämtliche Archive der Polizei zu vernichten und somit zahlreichen Juden das Leben
zu retten. Die Zahl der durch Giovanni Palatucci geretteten Menschen konnte nie eindeutig
festgestellt werden. Nachforschungen ergaben Zahlen zwischen mehreren hundert bis
zu circa 7000 Geretteten. Am wahrscheinlichsten ist die Zahl von ungefähr 5000 Personen.
Um die deutschen Besatzungsmächte zusätzlich zu behindern, verweigerte er ihnen die
Ausstellung von Zertifikaten, soweit nicht die ausdrückliche Anweisung seiner Vorgesetzten
dazu vorlag.
Durch Verrat konnte sein Kontakt zu den lokal operierenden Partisanen
von den deutschen Besatzungsbehörden aufgedeckt werden. Am 13. September 1944 wurde
Giovanni Palatucci von dem SS-Hauptmann der Herbert Kapler, festgenommen. Am 22. Oktober
1944 wurde er aus dem Gefängnis von Triest in das Konzentrationslager Dachau überstellt,
wo er wenige Wochen vor der Befreiung des Lagers im Alter von 36 Jahren starb.
Nun
ist Giovanni Palatucci – der letzte Quästor von Fiume, der in Israel bereits zu den
‚Gerechten unter den Völkern’ aufgenommen wurde, inzwischen von der katholischen Kirche
auch seliggesprochen worden – und zwar gehört zu den Märtyrern des 20. Jahrhundert.
Auf
Anregug von Papst Johannes Paul II. ließ die Römisch-Katholische Kirche am Ende des
zweiten Jahrtausends in mehreren Ländern Dokumentationen über christliche Blutzeugen
des 20. Jahrhunderts erstellen, um deren Zeugnis nicht in Vergessenheit geraten zu
lassen. Insgesamt wurden der ‘Kommission neue Märtyrer’ 12692 Märtyrer des 20. Jahrhunderts
gemeldet, darunter war auch Giovanni Palatucci. Hören wir hinein jetzt in die unvergessene
Predigt Papst Johannes Paul II., die er am 7. Mai 2000 am Kolosseum gehalten hat:
“Wenn
das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber
stirbt, bringt es reiche Frucht. Die Generation, der ich angehöre, hat den Schrecken
des Krieges, die Konzentrationslager und die Verfolgung kennengelernt. In meiner Heimat
wurden während des Zweiten Weltkriegs Priester und Christen in Vernichtungslager deportiert.
Allein in Dachau waren etwa dreitausend Priester interniert. Ihr Opfer vereinte sich
mit dem Opfer vieler Christen, die aus anderen europäischen Ländern kamen und mitunter
anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften angehörten.
Ich selbst bin in
meiner Jugendzeit Zeuge für großen Schmerz und viele Prüfungen geworden. Von Anfang
an war mein Priestertum „einbezogen in das große Opfer so vieler Männer und Frauen
meiner Generation" (Geschenk und Geheimnis, S. 45). Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs
und der darauffolgenden Jahre hat mich dazu geführt, mit dankbarer Aufmerksamkeit
das leuchtende Beispiel all jener zu betrachten, die seit den ersten Jahren des zwanzigsten
Jahrhunderts bis zu seinem Ausgang Verfolgung, Gewalt und Tod auf sich nahmen um ihres
Glaubens willen und wegen ihres Verhaltens, das von der Wahrheit Christi beseelt war.
Es
sind so viele! Ihr Gedächtnis darf nicht vergessen werden. Mehr noch: Es muss dokumentiert
und wieder gewonnen werden. Die Namen vieler sind unbekannt. Die Namen einiger wurden
von den Verfolgern in den Schmutz gezogen, die das Martyrium mit der Schande verbinden
wollten. Die Namen anderer wurden von den Henkern unter Verschluss gehalten. Doch
die Christen bewahren das Andenken an einen Großteil von ihnen. Das haben die zahlreichen
Antworten bewiesen, die in der beim Komitee des Großen Jubiläums angesiedelten Kommission
„Neue Märtyrer" eingegangen sind.“
Acht Jahre später – am 7. April ging
Papst Benedikt in der Kirche des Hl. Bartholomeus auf dasselbe Thema der Märtyrer
des XX. Jahrhunderts ein und bezog sich dabei auf seinen Vorgänger Johannes Paul II.
„Liebe
Brüder und Schwestern!
Unsere Begegnung in der alten Basilika San Bartolomeo
auf der Tiberinsel können wir als eine Pilgerschaft im Gedenken an die Märtyrer des
20. Jahrhunderts betrachten, an unzählige Männer und Frauen, bekannte und unbekannte,
die im Lauf des 20. Jahrhunderts ihr Blut für den Herrn vergossen haben. Eine Pilgerschaft
im Lichte des Wortes Gottes, das unserem Fuß eine Leuchte und Licht für unsere Pfade
ist (vgl. Ps 119,105) und mit seinem Licht das Leben jedes Gläubigen erhellt. Von
meinem geliebten Vorgänger wurde diese Kirche ausdrücklich dazu bestimmt, ein Ort
des Gedenkens an die Märtyrer des 20. Jahrhunderts zu sein, und von ihm der Gemeinschaft
„Sant’Egidio“ anvertraut, die in diesem Jahr dem Herrn für den 40. Jahrestag ihres
Bestehens dankt.
Auch das 21. Jahrhundert hat im Zeichen des Martyriums begonnen.
Wenn die Christen wirklich Sauerteig, Licht und Salz der Erde sind, werden auch sie,
wie das bei Jesus geschah, Gegenstand von Verfolgungen; wie er sind sie ein »Zeichen,
dem widersprochen wird«. Das brüderliche Zusammenleben, die Liebe, der Glaube, die
Entscheidungen zugunsten der Schwächsten und der Armen, die das Leben der christlichen
Gemeinschaft kennzeichnen, rufen manchmal gewalttätige Feindseligkeit hervor. Wie
hilfreich ist es dann, auf das leuchtende Zeugnis dessen zu blicken, der uns vorausgegangen
ist im Zeichen einer heroischen Treue bis zum Martyrium! Und in dieser alten Basilika
trägt die Gemeinschaft „Sant’Egidio“ Sorge dafür, das Gedächtnis an viele Glaubenszeugen,
die in neuerer Zeit ihr Leben gelassen haben, zu bewahren und zu ehren. Liebe Freunde
der Gemeinschaft „Sant’Egidio“, bemüht auch ihr euch mit dem Blick auf diese heroischen
Gestalten des Glaubens darum, ihren Mut und ihre Standhaftigkeit im Dienst am Evangelium
nachzuahmen, besonders unter den Armen. Stiftet Frieden und Versöhnung zwischen denen,
die einander Feind sind oder sich bekämpfen. Nährt euren Glauben durch das Hören und
die Betrachtung des Wortes Gottes, durch das tägliche Gebet, durch die aktive Teilnahme
an der heiligen Messe. Die wahre Freundschaft mit Christus wird die Quelle eurer gegenseitigen
Liebe sein. Unterstützt von seinem Heiligen Geist werdet ihr eine brüderlichere Welt
schaffen können. Die heilige Jungfrau, Königin der Märtyrer, stehe euch bei und helfe
euch, authentische Zeugen Christi zu sein. Amen!“
Soweit zwei Ausschnitte
aus den Ansprachen Papst Johannes Paul II. und Benedikt XVI. zum Thema Märtyrer des
20 und 21. Jahrhunderts. Abschlussgedanken zu Giovanni Palatucci – dem Mann zwischen
Pflicht und Gewissen – der sich den Beinamen Schindler Italiens zuschreiben kann.
In Italien belegen neue Dokumente eine unmittelbare Unterstützung von Papst Pius XII.
für jüdische Häftlinge während der Jahre des Zweiten Weltkiegs. Die Tageszeitung ‚l‘Avvenire’
dokumentiert Briefe aus dem Nachlass des süditalienischen Bischofs Giuseppe Maria
Palatucci, dem Onkel unseres Giovanni Palatucci, von dem bereits die Rede war. Demnach
habe Pius XII. dem damaligen Oberhirten der Diözese Campagna mehrere Geldbeträge für
‘aus rassischen Gründen Verfolgte’ angewiesen. Der Nachlass, der 50 Jahre nach dem
Tod des Bischofs freigegeben wurde, enthält auch Hinweise auf dessen Neffen Giuseppe
Palatucci.