Rolf
Toman (Hsg.), Gotik. Bildkultur des Mittelalters von 1140 bis 1500. Empfohlen
von Stefan Kempis
„Weil unser Herz unruhig und leider selten ganz bei
sich selbst ist, darum sind die Bilder gemacht, damit der Mensch sein Herz finde.“
Dieses unmittelbar an den heiligen Augustinus („Unruhig ist unser Herz, bis es
Ruhe findet in Dir“) erinnernde Diktum aus einer Predigtsammlung des 13. Jahrhunderts
steht als Motto über einem Prachtband zur Bildkultur des Mittelalters 1140-1500: „Gotik“,
erschienen im h.f.ullman Verlag. Wie schon das Ausnahmebuch „Ars Sacra“ von 2010 hat
auch „Gotik“, das erste in einer neuen Kunstbücher-Reihe, ein Überformat, ungefähr
vierzig mal dreißig Zentimeter. Öffnet man die ausklappbaren Farbtafeln, von denen
es im Inneren einige gibt, landet man sogar bei 1,20 Metern(!). Und wie bei „Ars Sacra“
sind es auch hier zunächst die über sechshundert Fotografien von Achim Bednorz, die
– oft ins Riesenhafte gehend und dabei noch die kleinsten Details preisgebend – eine
ganze Epoche vor unseren Augen erstehen lassen.
Als Ouvertüre führen zunächst
einige doppelseitige Farbaufnahmen ins Thema ein. Doch dabei wird, von Anfang an,
nicht nach dem großen Effekt gehascht; vielmehr beziehen die Macher des Buches auch
eher Unbekanntes gleichberechtigt mit ein, wenn es nur von seiner Epoche Zeugnis abzulegen
vermag. Dieser Auftakt ist programmatisch für das ganze Buch: Nicht (nur) durch Reproduktion
des halbwegs Bekannten glänzen will es, sondern vor allem informieren, aufklären in
bester Bedeutung dieses Wortes. Um den bekannten Spruch des Horaz, nach dem Dichter
hervorstechen oder erfreuen wollen (aut prodesse volunt, aut delectare poetae),
einmal aufzugreifen: Der Band „Gotik“ will beides. Hervorstechen (dafür spricht schon
sein Format), erfreuen, und – so geht es bei Horaz weiter – auch unserer Zeit „nützliche
Dinge übermitteln“.
Und das leisten nicht nur die Fotos, sondern (auf Augenhöhe)
auch die Texte. Sie stammen vom Dresdner Professor für Christliche Kunst der Spätantike
und des Mittelalters, Bruno Klein, und halten sich – das war schon bei „Ars Sacra“
eines der herausragenden Charakteristika – ausgesprochen eng an die Fotos. Das führt
dazu, dass sich, anders als das oft bei anderen Kunstbüchern der Fall ist, Bild und
Erläuterungen gegenseitig erklären und stützen. Die gefürchtete „Text-Bild-Schere“
gibt es hier nicht. Und diese kluge Bild-Text-Komposition führt zu ungemein erhellenden
Erkenntnissen, etwa in der Bilderklärung des „Wunderbaren Fischzuges“ von Konrad Witz,
den Klein feuilletonistisch mit „Der Witz des Malers“ überschreibt und den er schlüssig
auf die Wirren um Päpste und Gegenpäpste zur Mitte des 15. Jahrhunderts bezieht.
Das
enge Mit- und Aneinander von Bild und Text scheint mir, wenn das Staunen über die
detailverliebten Fotos erst einmal abklingt, einer der wichtigsten Vorzüge dieses
Buches. Es will nicht blenden, es ist auch keine um Vollständigkeit bemühte Enzyklopädie,
sondern es schlägt einen schwierigeren (doch für den Leser/Betrachter lohnenderen)
Weg ein: die Erklärung einer ganzen Epoche. Überzeugend werden dabei, das ist das
eine, die Bildinnovationen der Gotik zu den Umbrüchen der Zeit, etwa der wachsenden
Bedeutung ummauerter Städte (was natürlich mit den beeindruckenden Mauern von Carcassonne
illustriert wird), in Beziehung gesetzt. Dabei spricht Klein aber bewusst vom „Bild“,
ohne jedes Mal streng – es erschließt sich ja ohnehin über die Fotos – zwischen Sparten
wie Malerei oder Grafik zu unterscheiden. Ein umfassender Ansatz, der einleuchtet,
zumal dem Professor auch eine gewandte Feder zu Gebote steht.
„Fühlen, denken
und leben in Bildern“ – das ist der Nenner, auf den Klein die Gotik bringt. Die Epoche
ist für ihn gekennzeichnet durch eine explosionsartig steigende Bedeutung des Bildes
beziehungsweise der „bildhaften Inszenierung“. Hervorgerufen wird sie u.a. durch das
Bevölkerungswachstum und durch zunehmenden Reichtum sowie durch einen „gesteigerten
Ausdruckswillen der Akteure“. Klein weist kenntnisreich und gut verständlich auf überraschende
Aspekte der Gotik hin, etwa darauf, dass sie erstmals seit der Antike wieder „nennenswerte
Profankunst“ hervorbrachte. Oder darauf, dass unsere Vorstellungen von Kunst und Künstler
recht eigentlich „Erfindungen“ der Hochgotik sind und dass es auch in der Gotik „neue
Medien“ gab. Oder dass christliche und jüdische Auftraggeber in der Regel dieselben
Künstler beschäftigten, was – von den begleitenden Fotos sofort belegt – zu starken
Ähnlichkeiten im künstlerischen Ausdruck beider Religionen führte.
Kathedralen
nennt Klein den „gebauten Ausdruck einer gottgewollten Weltordnung“; doch habe sich,
und das ist eine interessante Feststellung, offenbar „der Glaube an den magisch-sakralen
Gehalt des Kirchengebäudes recht bald gelegt, da er überstrapaziert worden war“, sonst
hätte er „nicht im Zuge der Reformation so schnell abgeschüttelt werden können“. Anders
verhielt sich das nach seiner Beobachtung mit der „Beziehung“ der Menschen „zu den
Bildwerken“: Diese sei, im Unterschied zur Epoche zuvor (Romanik) und danach (Reformationszeit),
„durchaus distanziert“ gewesen, was an illustrierenden Fotos unmittelbar deutlich
wird. Ein interessanter Kontrast, auf den Klein da aufmerksam macht, und einer von
vielen Belegen für sein genaues Hinsehen.
Zu diesem Thema, wie zu vielen weiteren,
die der Dresdner Professor anspricht, würde man gerne noch etwas Vertiefendes lesen
– aber das würde wohl sogar den großzügigen Rahmen dieses Bild- und Textbandes sprengen.
Mit den Fotos verhält es sich ebenso: Schade, dass die Kathedrale von Reims nicht
noch ein paar Seiten mehr bekommt! Aber, und das ist natürlich wichtiger, dafür passen
dann auch weniger bekannte gotische Tafelbilder oder einige Seiten aus der „Manessischen
Liederhandschrift“ in den Band hinein.
Manchmal – sehr selten – kann man allerdings
Rückfragen an die Redaktion stellen; so ist zum Beispiel auf S. 21 im Reliefdetail
einer Kanzel in Pisa ausgerechnet der Kopf des richtenden Christus halb abgeschnitten.
Aber die raren Schönheitsfehler trüben nicht den Gesamteindruck, der aus Überwältigung
durch Großes wie aus Verzauberung durchs Detail besteht. „Weil unser Herz unruhig
und leider selten ganz bei sich selbst ist, darum sind die Bilder gemacht, damit der
Mensch sein Herz finde.“ An diesen Prachtband kann man sein unruhiges Herz verlieren!