Er suchte Gott und schrieb Bücher über Jesus: Benedikt XVI.
Er war Leiter einer
Religionsgemeinschaft mit festen Überzeugungen – und doch lebenslang auf der Suche:
Benedikt XVI. „Keiner kann sagen, er besitze die Wahrheit“, erklärte er; ungewöhnliche
Töne für einen Papst. Er verkündete Gott und suchte gleichzeitig nach ihm – eine Suche,
der wir mehrere Bücher über Jesus von Nazareth verdanken. Sie sind wohl die bemerkenswerteste
Hinterlassenschaft des deutschen Pontifikats; und eine, die seine Nachfolger so schnell
nicht nachmachen dürften.
Das erste Mal spricht Joseph Ratzinger 2002 in einem
Interview mit Radio Vatikan von seinem Projekt, ein Buch über Jesus zu schreiben.
Er ist damals 75 Jahre alt, Kardinal, Chef der römischen Glaubenskongregation. Und
rechnet damit, in fünf Jahren in Ruhestand zu gehen. Dafür will er sich nicht zuviel
vornehmen:
„Was mir aber besonders am Herzen läge, wäre, noch ein Buch über
Jesus Christus zu schreiben. Wenn mir das geschenkt würde, wäre das sozusagen der
Wunsch, den ich vor allem trage. Und damit verbindet sich auch der Wunsch, dass ich
genügend Zeit und Freiheit finde, um das zustande zu bringen.“
Joseph Ratzinger
ist – so wird er es selbst später einmal formulieren – zu seinem Jesusbuch „lange
innerlich unterwegs gewesen“. Ihm steht ein „Bild Jesu Christi“ vor Augen, „wie er
als Mensch auf Erden lebte, aber – ganz Mensch – doch zugleich Gott zu den Menschen
trug, mit dem er als Sohn eins war. So wurde durch den Menschen Jesus Gott und von
Gott her das Bild des rechten Menschen sichtbar.“ Seit den fünfziger Jahren allerdings
habe es eine Reihe von Jesus-„Rekonstruktionen“ gegeben, durch die der „Riss zwischen
dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens“ immer tiefer wurde: „Beides
brach zusehends auseinander.“
„Christus wird auf Jesus reduziert, auf einen
beispielhaften Menschen, über den dann wieder die Ideen sehr unterschiedlich sind,
und die Gottesfrage weitgehend beiseite geschoben. Es bleiben menschliche Vorbilder;
bis zu Gott reicht es sozusagen gar nicht hin. So dass heute die Frage geworden ist:
Gibt es doch mehr? Ist dieser Jesus mehr als irgendeines der Vorbilder, die es irgendwann
mal gegeben hat? Und erreichen wir in ihm sozusagen wirklich Gott? Nur, wenn wir auf
diese Fragen antworten, können wir die Herausforderung bestehen, die in der Gegenwart
liegt.“
Im April 2005 wird Ratzinger zum Papst gewählt: Benedikt XVI. Sein
Jesusbuch ist da schon weitgehend fertig geschrieben – das erste zumindest. Denn das
Projekt wächst an, mindestens drei Bände wird er brauchen. Im März 2007 veröffentlicht
der Papst seinen ersten Band: Jesus von Nazareth – von der Taufe im Jordan bis zur
Verklärung. Er wartet nicht, bis er alles fertig geschrieben hat: „Da ich nicht weiß,
wie lange mir noch Zeit und Kraft geschenkt sein werden“, wie er formuliert. Der Autorenname
ist ein doppelter: Joseph Ratzinger – Benedikt XVI.
„Das gab es noch nie in
der Geschichte, dass ein Papst ein wissenschaftliches Jesusbuch schreibt.“ So reagiert
damals, zusammen mit vielen anderen, der Bochumer Neutestamentler Thomas Söding. „Hier
zeigt sich ein ganz neuer Stil des Papsttums: Der Stellvertreter Christi auf Erden
formuliert kein Dogma, sondern sagt „Das ist meine Beobachtung als Theologe, lest
das kritisch und diskutiert darüber!“ Das halte ich für revolutionär.“
„Gewiss
brauche ich nicht eigens zu sagen, dass dieses Buch in keiner Weise ein lehramtlicher
Akt ist, sondern einzig Ausdruck meines persönlichen Suchens nach dem Angesicht des
Herrn“, so Ratzinger-Benedikt im Vorwort des ersten Bandes. „Es steht daher
jedem frei, mir zu widersprechen. Ich bitte die Leserinnen und Leser nur um jenen
Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt.“
„Das Buch
ist für alle interessant. Und mit seiner klaren und sehr gut verständlichen Sprache
kann man es auch ohne Vorkenntnisse lesen... Was er jetzt braucht, sind viele intelligente
und kritische Leser, die nicht vor Ehrfurcht in die Knie gehen, sondern das offene
Gesprächsangebot ernst nehmen... Der Papst will ja auch gerade nicht sagen "Hier ist
der Weisheit letzter Schluss und ab jetzt wird keine Jesusforschung mehr getrieben."
Im Gegenteil! Die Leser sollen ja diskutieren, wieso dieser Jesus einerseits so fasziniert
und andererseits so irritiert.“
Das erste Jesusbuch wird ein Bestseller.
„Faszinierend“, urteilt der Jesuitenkardinal Martini, „bewunderswert, dass der Papst
sich das als Nicht-Exeget zutraut.“ Der Theologe auf dem Stuhl des Petrus versucht,
die historisch-kritische Bibelauslegung ernstzunehmen, aber auch die sogenannte „Kanonische
Exegese“ zu ihrem Recht kommen zu lassen. Sein Argument: Der Jesus, von dem die Evangelien
erzählen, ist der Jesus des Glaubens. Man kann also, wenn man nach diesem Jesus fragt,
den Glauben nicht einfach außer acht lassen. Auch der Wiener Kardinal Christoph Schönborn,
der den Band der internationalen Presse vorstellt, sagt das so: „Jesus von Nazareth
ist zuallererst das Werk eines Glaubenden. Und das ist das Wichtigste an diesem Buch.
Es ist das Zeugnis eines Glaubenden an Jesus. Dass dieser Glaubende auch ein großer
Theologe ist,.... das spielt natürlich alles mit hinein in dieses Buch, aber es ist
zuerst das ganz persönliche Hinschauen des Christen Ratzinger auf seinen Herrn, auf
Jesus.“
Es ist vor allem ein jüdischer Rabbiner, mit dem der Papst – überraschend
genug – in einen inneren Dialog über Gott tritt und darüber, wer Jesus war. Jesus
war selbst die Thora, so entwickelt es Benedikt XVI.; und wenn man fragt, was Jesus
eigentlich gebracht habe, dann sei die Antwort „ganz einfach: Gott. Er hat Gott gebracht...
Nun kennen wir sein Antlitz, nun können wir ihn anrufen.“ Heimliche Achse des ersten
Jesusbuches: die Bergpredigt. In den Seligpreisungen der Armen, der Sanftmütigen usw.
erkennt Ratzinger-Benedikt ein verhülltes Selbstporträt Jesu.
„Er ist der
Gewaltlose, der Friedensstifter, der Arme usw.! Wenn man also von der Biografie Christi
her sozusagen die Bergpredigt liest, dann sieht man, dass es gar nicht so sehr auf
die Einzelheiten ankommt (jeder kann nur einen Teil verwirklichen) – das Prinzip darin
ist eben dieses: Christus nahezukommen und in seinem Leben die Gemeinschaft mit Christus
neu auszudrücken und sich davon in seinem Leben führen und bestimmen zu lassen.“
Vier
Jahre später veröffentlicht Papst Benedikt den zweiten Teil der Jesus-Trilogie: „Vom
Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung“. Darin kann er schon auf eine lebhafte Debatte
zu seinem ersten Band zurückblicken: „Dankbar nehme ich auch zur Kenntnis, dass
die Diskussion über Methode und Hermeneutik der Exegese, über Exegese als historische
und zugleich als auch theologische Disziplin trotz mancher Sperren neuen Schritten
gegenüber an Lebhaftigkeit zunimmt.“ Der Papst präzisiert noch mal, „dass ich
kein „Leben Jesu“ schreiben wollte“ und auch keine „Christologie von oben“. „Gestalt
und Botschaft Jesu“ wolle er zeichnen: „Ein wenig übertreibend könnte man sagen,
ich wollte den realen Jesus finden, von dem aus so etwas wie eine „Christologie von
unten“ überhaupt möglich wird.“
„Der Papst geht nun der Frage nach,
was Jesus Christus für uns bedeutet – was sein Tod und seine Auferstehung bedeuten
und welches nun die große Verheißung für uns ist: dass Jesus Christus der Erlöser,
der Retter ist.“ Das sagt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof
Robert Zollitsch. „Das Buch hat den großen Vorteil, dass es in deutscher Sprache
konzipiert ist und wir damit die Originalsprache des Heiligen Vaters selber haben.
Und er ist der, der den Leser einlädt, mitzugehen, durch die Art und Weise, wie er
Fragen stellt und sie beantwortet und wie er den Leser mit einbezieht in seine ganzen
Überlegungen, die ihm auf diese Weise folgen können. Man spürt, woraus Papst Benedikt
lebt, was Jesu für ihn bedeutet, und dieses Feuer wird weitergegeben.“
Auch
das zweite Jesusbuch: ein Bestseller. Auch wenn man sich an den bücherschreibenden
Papst mittlerweile etwas mehr gewöhnt hat. Besonders aufmerksam wird zur Kenntnis
genommen, dass Ratzinger-Benedikt deutlich die These zurückweist, die Juden seien
schuld am Tode Jesu. Thomas Söding:
„Der Papst lässt sich hier erfreulich
intensiv auf die Debatten der historisch-kritischen Exegese ein und arbeitet heraus,
dass es zu einem guten Teil bibelwissenschaftliche Gründe sind, dass wir mittlerweile
sagen: Es waren natürlich nicht die Juden – es waren die Hohenpriester, und es waren
in gewisser Weise wir alle. Das wird beim Papst glasklar und ist natürlich sehr hilfreich
für das christlich-jüdische Gespräch.“
Über die Auferstehung Jesu schreibt
der Papst: „Jesus ist nicht in ein normales Menschenleben dieser Welt zurückgekehrt
wie Lazarus und die anderen von Jesus auferweckten Toten. Er ist in ein anderes, neues
Leben hinausgetreten – in die Weite Gottes...“ Der Autor betont in direktem Widerspruch
etwa zum evangelischen Theologen Gerd Lüdemann, „dass die Auferstehung für die Jünger
so real war wie das Kreuz“. „Keine wiederbelebte Leiche, sondern ein von Gott her
neu und für immer Lebender.“ Das Jesus-Projekt Benedikts ist alles auf einmal:
Bekenntnis des Glaubens, theologische Detailarbeit, Einladung zum Gespräch. Noch einmal
Kardinal Schönborn:
„Er hat sich auch als Professor, wo ich ihn erlebt habe,
immer sehr debattenfreudig gezeigt, er hat ein ganz großes Vertrauen in die Kraft
der Argumente. Darum lässt er sich auch gründlich ein auf die historische Kritik an
Jesus, stimmt das überhaupt, was man in der Bibel über ihn erzählt, ist das nicht
Pfaffenlug und Kirchenschwindel, muss man das nicht alles enthüllen, wie das gewisse
Autoren mit großen finanziellen Erfolg machen – da stellt er sich ganz ungeniert der
strengen strikten Argumentation. Und diese Argumentation ist für ihn auch möglich,
und er vertraut darauf, dass die Argumente nachvollziehbar sind. Das ersetzt nicht
den Glauben, aber es zeigt zumindest eines für ihn, so ganz nebulös ist das Bild dieser
Jesus nicht, wie es in den Evangelien steht – das ist sehr glaubwürdig.“
Und
Ende 2012 dann, passend zur Adventszeit, der dritte Band, deutlich dünner als die
anderen, „Prolog“ betitelt. Eine Reflexion über die Kindheitsgeschichten der Evangelien.
Bei der der Autor einmal, als es um die Jungfräulichkeit Mariens geht, sogar seinem
geliebten hl. Augustinus von Hippo widerspricht und offen zugibt, er könne sich Mariens
Frage an den Engel in Nazareth („Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“)
schlichtweg nicht erklären: „rätselhaft“. Es ist für den Leser anrührend, wie behutsam
dieser alte Papst sich mit der Weihnachtsgeschichte beschäftigt. Einige Exegeten allerdings
ziehen die Stirn kraus, ihnen sind die Literaturangaben hinten im Buch zu dürftig
und der Papst dem Bibeltext gegenüber nicht kritisch genug.
Kardinal Gianfranco
Ravasi, Leiter des Päpstlichen Kulturrates, stellt Benedikts Buch vor – und betont,
es sei im Gegensatz zu vielen „unlesbaren“ theologischen Büchern allgemeinverständlich.
„Der
Papst beginnt mit einer Szene, die in der Geschichte Jesu eher am Ende steht: Pontius
Pilatus fragt ihn: ‚Woher kommst du?’ Diese Frage ist quasi die Essenz des ganzen
neuen Bandes. Sie wird im übertragenen Sinn zu einer symbolischen, sehr bedeutsamen
Frage: Was ist der Ursprung Christi – und zwar jenseits des historischen Wissens?
Es ist eine sehr tief gehende Frage. Und auf diese will das Buch antworten, so der
Papst.“
Woher kommst du, Jesus? Wer bist du? Wer ist Gott? Diese Fragen
treiben Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. sein Leben lang um. Dabei sucht er besonders
hartnäckig das Gespräch mit Nichtglaubenden, mit Zweiflern: „Vorhof der Völker“ heißt
eine Vatikan-Initiative, die auf seine Anregung hin das Gespräch mit Intellektuellen
in West und Ost sucht. Sie startet 2011 in Paris, der Hauptstadt des Laizisimus. Mit
dieser Initiative und in vielen Ansprachen und Begegnungen gibt Benedikt den Denkern
unserer Zeit zu be-denken: An Gott zu glauben ist vernünftig.
„Gott ist
nicht etwas Widersinniges, das der Vernunft entgegensteht“. Natürlich, es stimme
schon – Gott sei ein Geheimnis „und in diesem Sinne dunkel“: „So wie wenn man in
die Sonne schaut und zuerst Dunkelheit sieht. Aber es ist ein Geheimnis, das nicht
irrational ist, sondern eine Überfülle an Sinn und Wahrheit, also die eigentliche
Quelle des Lichts.“ Das Geheimnis Gottes kann also der Vernunft zunächst einmal
„dunkel erscheinen“, so formulierte es Benedikt XVI.: „Aber der Glaube gibt uns
gleichsam die Sehfähigkeit, sein Licht zu ertragen, es gebrochen in der Geschichte
Gottes mit uns, dann als das wahre Licht zu erkennen.“ Gott selbst sei dem Menschen
nahegekommen und habe sich auf seine Maßstäbe eingelassen; er erleuchte „mit seiner
Gnade die Vernunft“.
„Glaube, um zu verstehen; verstehe, um zu glauben,
hat der heilige Augustinus aus der Erfahrung seines eigenen kurvenreichen Lebensweges
gesagt. Er bezeugt einen Glauben, der die Vernunft öffnet und nicht tötet.“ Hier
rühren wir an das wohl wichtigste Anliegen dieses Papstes, dieses Denkers: Vernunft
und Glauben, sie seien „beide zusammen Bedingungen für das Verstehen von Gottes Wort
und für das Verstehen unserer selbst“. Dass die Vernunft über die Schöpfung bis zur
Gotteserkenntnis aufsteigen könne, habe auch das Erste Vatikanische Konzil schon betont.
„Jedenfalls stehen so Wissenschaft und Glaube nicht gegeneinander, sondern
sind aufeinander verwiesen. Wissenschaft erweitert die Vernunft und hilft uns die
Welt zu erkennen und zu verstehen. Aber der Glaube gibt uns die Maßstäbe der Menschlichkeit
des Menschseins, die Maßstäbe, was für den Menschen gut ist und was in sich gut ist,
und so überwindet er die Pathologien der Wissenschaft, die ihrerseits die Pathologie
der Religion überwinden kann.“ Fazit des Papstes: „Vernunft und Glauben gehören
zusammen, als gemeinsamer Weg zum Licht Gottes“.
Diesen Weg hat Benedikt
XVI. der Kirche gewiesen, aber auch generell den Menschen unserer Zeit, gerade auch
den Nichtglaubenden. Auf diesen Weg hat er sich selbst gemacht. Die Suche dieses gewesenen
Papstes ist auch mit seinem Rücktritt noch nicht an ihr Ende gekommen.