Mitarbeiter der Wahrheit: Das Pontifikat von Benedikt XVI.
Es besteht kein Zweifel
daran, dass Benedikt XVI. mit seinem Rücktritt in die Kirchengeschichte eingehen wird:
Aus dem Ruf „Wir sind Papst“ zu Beginn des deutschen Pontifikats vor acht Jahren wurde
am Tag des Rücktritts „Wir sind Mensch“. Benedikt war „ungewöhnlich, originell“, so
schrieb es der israelische Staatspräsident Shimon Peres in einem Brief an die Vatikanzeitung
Osservatore Romano. Ungewöhnlich war der Rücktritt, ungewöhnlich waren aber auch diese
acht Jahre von Joseph Ratzinger auf dem Stuhl des Petrus.
Es begann mit einem
Fallbeil – so formulierte es der neue Papst kurz nach seiner Wahl bei einer ersten
Audienz für deutsche Besucher: „Als langsam der Gang der Abstimmungen mich erkennen
ließ, dass sozusagen das Fallbeil auf mich herabfallen würde, war mir ganz schwindelig
zumute. Ich hatte geglaubt, mein Lebenswerk getan zu haben und nun auf einen ruhigen
Ausklang meiner Tage hoffen zu dürfen. Ich habe mit tiefer Überzeugung zum Herrn gesagt:
Tu mir dies nicht an! Du hast Jüngere und Bessere, die mit ganz anderem Elan und mit
ganz anderer Kraft an diese große Aufgabe herantreten können.“ Doch ein Mit-Kardinal
habe ihm in diesem Moment einen kleinen Brief zugeschoben, der redete dem Zögernden
ins Gewissen: „Der Mitbruder schrieb mir: Wenn der Herr nun zu Dir sagen sollte
„Folge mir", dann erinnere Dich, was Du gepredigt hast. Verweigere Dich nicht! Sei
gehorsam, wie Du es vom großen heimgegangenen Papst gesagt hast. Das fiel mir ins
Herz. Bequem sind die Wege des Herrn nicht, aber wir sind ja auch nicht für die Bequemlichkeit,
sondern für das Große, für das Gute geschaffen.“
Er sagte also: Ja. Und
mühte sich von da an redlich. So schwer es auch war, einem Giganten wie Johannes Paul
II. nachzufolgen. Doch der „Professor Papst“ aus Bayern urteilte gleichmütig, neben
den großen müsse es eben auch „kleine Päpste geben, die das Ihre geben“. Und als so
ein kleiner, arbeitsamer Papst im Weinberg des Herrn sah sich Joseph Ratzinger selbst.
„Die
Kirche ist gar nicht alt und unbeweglich. Nein, sie ist jung... Christus hat uns nicht
das bequeme Leben versprochen. Wer Bequemlichkeit will, der ist bei ihm allerdings
an der falschen Adresse. Aber er zeigt uns den Weg zum Großen, zum Guten, zum richtigen
Menschenleben. Wenn er vom Kreuz spricht, das wir auf uns nehmen sollen, ist es nicht
Lust an der Quälerei oder kleinlicher Moralismus. Es ist der Impuls der Liebe, die
aufbricht aus sich selbst heraus, die nicht umschaut nach sich selber, sondern den
Menschen öffnet für den Dienst an der Wahrheit, an der Gerechtigkeit, am Guten. Christus
zeigt uns Gott und damit die wahre Größe des Menschen.“
Das Verhängnis
wollte es, dass es gerade in seinem Pontifikat zu vielen Krisen und Skandalen kam.
Angefangen mit einer Regensburger Rede, von der sich 2006 viele Muslime brüskiert
fühlten, bis hin zu kirchlichen Missbrauchsskandalen in Ländern wie Deutschland, Irland
und den USA. Sein eigener Kammerdiener klaute ihm Papiere vom Schreibtisch und gab
sie an die Presse weiter: der sogenannte Vatileaks-Skandal von 2012, der Benedikt
viel Kraft gekostet haben wird. Oft taten Medien dem Papst im Eifer des Gefechts unrecht,
viel Häme traf ihn auch aus seiner Heimat; doch die Skandale deckten auch auf, dass
der Vatikan in Sachen Kommunikation noch viel zu lernen hatte. Und die Kurie in Sachen
Kollegialität. „Viele sind heute bereit, angesichts von – natürlich von anderen begangenen
– Skandalen und Ungerechtigkeiten „ihre Kleider zu zerreißen“, aber wenige scheinen
bereit, auf ihr „Herz“, ihr Gewissen, ihre Absichten einzuwirken und zuzulassen, daß
der Herr sie verwandle, erneuere und bekehre.“ Das sagte der Papst in seiner letzten
Messe im Petersdom, am Aschermittwoch 2013. „Wie oft wird das Gesicht der Kirche
doch verunstaltet! Ich denke besonders an die Vergehen gegen die Einheit der Kirche,
an die Spaltungen im Leib der Kirche... Jesus prangert die religiöse Scheinheiligkeit
an, das Verhalten, sich in Szene zu setzen, die Haltungen, die Beifall und Zustimmung
suchen. Der wahre Jünger dient nicht sich selbst oder der „Öffentlichkeit“, sondern
dem Herrn!“
Das Getöse der Skandale überdeckte weithin den leisen, nachdenklichen
Ton dieses Papstes. Und seine Botschaft, bei der man genau hinhören, sich auf sie
einlassen musste.
„Wer glaubt, ist nie allein... Gehen auch wir Gott entgegen,
dann gehen wir aufeinander zu! ... Die Vision des Glaubens umfaßt Himmel und Erde;
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, die Ewigkeit und ist darum nie ganz auszuschöpfen.
Und doch ist sie in ihrem Kern ganz einfach... Der Glaube ist einfach. Wir glauben
an Gott – an Gott, den Ursprung und das Ziel menschlichen Lebens. An den Gott, der
sich auf uns Menschen einläßt, der unsere Herkunft und unsere Zukunft ist. So ist
Glaube immer zugleich Hoffnung, Gewißheit, daß wir Zukunft haben und daß wir nicht
ins Leere fallen. Und der Glaube ist Liebe, weil Gottes Liebe uns anstecken möchte.
Das ist das Erste: Wir glauben einfach an Gott, und das bringt mit sich auch die Hoffnung
und die Liebe.“
Hoffnung und Liebe: Diesen Themen widmete der Papst seine
zwei schönsten Enzykliken. Schon mit dem ersten dieser Rundschreiben, Deus Caritas
est, überraschte er alle: Der scharfe Denker Ratzinger – einstmals von vielen gefürchteter
Glaubenshüter des Vatikans – schrieb da an Weihnachten 2005 als Regierungsprogramm
ein Hohelied der Liebe. Wörtlich heißt es darin: „Am Anfang des Christseins steht
nicht ein ethischer Entschluß oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem
Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine
entscheidende Richtung gibt.“ Der Papst ging aus von einem Satz des ersten Johannesbriefes:
Wir haben der Liebe geglaubt. So könne der Christ den Grundentscheid seines Lebens
ausdrücken.
„Agape, Liebe, wie Johannes sie uns lehrt, ist nichts Sentimentales
und nichts Verstiegenes; sie ist ganz nüchtern und realistisch. Ein wenig darüber
habe ich in meiner Enzyklika „“ zu sagen versucht. Die Agape, die Liebe ist wirklich
die Summe von Gesetz und Propheten. Alles ist in ihr „eingefaltet“, muß aber im Alltag
immer neu entfaltet werden. Im Vers 16 unseres Textes findet sich das wundervolle
Wort: „Wir haben der Liebe geglaubt.“ Ja, der Liebe kann der Mensch glauben. Bezeugen
wir unseren Glauben so, daß er als Kraft der Liebe erscheint, „damit die Welt glaube“
(Joh 17, 21).“
Der Theologe Wolfgang Beinert hält „Deus Caritas est“ „für
ein so großartiges Dokument der Kirche, dass die sich verändern müsste, wenn sie diese
Enzyklika ernst nimmt“.
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Benedikt XVI.: ein Mann des Wortes. Und ein
rätselhafter Papst. Er brachte Gegensätzliches zusammen: Glaube und Vernunft. Scharfsinnige
Theologie und kindliches Gottvertrauen. Festhalten am Dogma und Sanftmut. Er war ein
Papst, der gleichzeitig dafür warb, dass die Christen wirklich „Salz der Erde“ seien
und dass die Kirche sich „entweltlicht“ – ein Begriff aus seiner berühmten Konzerthausrede
in Freiburg 2011.
„Um ihrem eigentlichen Auftrag zu genügen, muß die Kirche
immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von dieser ihrer Verweltlichung zu
lösen und wieder offen auf Gott hin zu werden. Sie folgt damit den Worten Jesu: „Sie
sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin“ (Joh 17,16), und gerade
so gibt er sich der Welt. Die Geschichte kommt der Kirche in gewisser Weise durch
die verschiedenen Epochen der Säkularisierung zur Hilfe, die zu ihrer Läuterung und
inneren Reform wesentlich beigetragen haben. Die Säkularisierungen – sei es die Enteignung
von Kirchengütern, sei es die Streichung von Privilegien oder ähnliches – bedeuteten
nämlich jedesmal eine tiefgreifende Entweltlichung der Kirche, die sich dabei gleichsam
ihres weltlichen Reichtums entblößt und wieder ganz ihre weltliche Armut annimmt.“
*
Er liebte die Liturgie und rehabilitierte die Form der Messfeier,
die vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil die gängige gewesen war. Gleichzeitig stand
er ohne Wenn und Aber zur Liturgie, wie sie aus dem Konzil herausgewachsen war. Er
sah, schärfer als sein Vorgänger, die Grenzen eines Dialogs der Kirche mit dem Islam.
Und trotzdem brachte gerade er ein neues, nach dem Schock der Regensburger Rede sogar
offeneres Gespräch mit dem Islam in Gang. Er verunsicherte immer wieder jüdische Beobachter,
etwa mit einer Neuformulierung einer Karfreitagsfürbitte. Gleichzeitig aber war er
mit Rabbinern befreundet, besuchte Synagogen, zeigte seinen tiefsten Respekt für das
in seinen Augen weiterhin auserwählte, nie von Gott verworfene Volk. Er galt als ökumenisch
unbeweglich – und doch ging er in großen Schritten vor allem auf die orthodoxen Christen
zu.
23. September 2011: Im Augustinerkloster Erfurt, in dem einst Martin Luther
nach dem gnädigen Gott suchte, trifft fünfhundert Jahre später der deutsche Papst
die deutschen Protestanten. Dabei würdigt er Luther eindringlich als Gottsucher. Durch
Rückbesinnung auf das Eigentliche sollten alle Christen ihren Glauben wieder zum Leuchten
bringen in der Welt. Nähmen sie ihr Eigenes wieder ernst und bemühten sich um einen
tiefen Glauben, dann brächte das automatisch auch der Ökumene voran. „Nicht Verdünnung
des Glaubens hilft, sondern ihn ganz zu leben in unserem Heute. Dies ist eine zentrale
ökumenische Aufgabe, in der wir uns gegenseitig helfen müssen: tiefer und lebendiger
zu glauben. Nicht Taktiken retten uns, retten das Christentum, sondern neu gedachter
und neu gelebter Glaube…“
Denn darum ging es diesem Papst am allermeisten:
Der Welt von heute den Gott „mit menschlichem Antlitz“ zu verkünden. Nicht irgendein
Gott war das, sondern ein Gott, der sich uns gezeigt und sich in Jesus mit uns gemeingemacht
hat. Nicht eine Lockerung des Zölibats also, Frauenpriestertum, Interkommunion oder
sexualethische Fragen sah Benedikt als die drängendsten Probleme unserer Zeit, denen
er seine Energie widmen wollte, sondern das Leiserwerden der Gottesfrage in den Gesellschaften
des Westens. Er suchte nach Gott – mit unruhigem Herzen, wie sein Vorbild St. Augustinus.
„Dieses unruhige und offene Herz brauchen wir. Es ist der Kern der Pilgerschaft.
Auch heute reicht es nicht aus, irgendwie so zu sein und zu denken wie alle anderen.
Unser Leben ist weiter angelegt. Wir brauchen Gott, den Gott, der uns sein Gesicht
gezeigt und sein Herz geöffnet hat: Jesus Christus... Wenn wir Christen ihn daher
den einzigen für alle gültigen Heilsmittler nennen, der alle angeht und dessen alle
letztlich bedürfen, so ist dies keine Verachtung der anderen Religionen und keine
hochmütige Absolutsetzung unseres eigenen Denkens, sondern es ist das Ergriffensein
von dem, der uns angerührt und uns beschenkt hat, damit wir auch andere beschenken
können.“
Es gibt eine Wahrheit, man kann sie finden, sie ist eine Person,
nämlich Jesus Christus: Davon war dieser Papst immer überzeugt. Sein Wahlspruch: „Mitarbeiter
der Wahrheit“.
„In der Tat setzt sich unser Glaube entschieden der Resignation
entgegen, die den Menschen als der Wahrheit unfähig ansieht – sie sei zu groß für
ihn. Diese Resignation der Wahrheit gegenüber ist meiner Überzeugung nach der Kern
der Krise des Westens, Europas. Wenn es Wahrheit für den Menschen nicht gibt, dann
kann er auch nicht letztlich Gut und Böse unterscheiden... Wir brauchen Wahrheit.“