Das dreizehnte
Kapitel, ein Roman von Martin Walser (rowohlt, ca. 20 Euro), rezensiert von Stefan
v. Kempis
„Unsere Brücke wird in die Luft gebaut. Sie hat drüben noch
keinen festen Punkt erreicht... Die Wirklichkeit als Abgrund... Ich möchte Sie verführen
zum Brückenbau ins Voraussetzungslose. Wir wissen nicht, wo wir landen werden. Aber
wir können`s nicht lassen, ins Voraussetzungslose zu bauen, von Wort zu Wort zu Wort.“
Ein Schriftsteller lernt bei einem vom Bundespräsidenten im Berliner Schloss Bellevue
ausgerichteten Abendessen eine evangelische Theologin kennen. Nicht ohne Mutwillen
lockt er sie in einen Briefwechsel hinein, der von beiden als Chance zur Ehrlichkeit
wahrgenommen wird. Sie schreiben über ihre Ehepartner und über sich selbst, über ihr
Denken und Fürchten und Hoffen, über Liebe und Verrat. Sie schwanken (wirklich wie
auf einer Wörterbrücke) zwischen Ernst und Übermut. Und sie geben viel von sich preis
- sie geben sich preis, sozusagen. Von fern erinnern diese Briefe an die zwischen
Karl Rahner und Luise Rinser gewechselten.
Das ist vor allem sehr vergnüglich
zu lesen – schon die ganze Gespreiztheit im Schloss Bellevue, ein fulminanter Walser-Auftakt!
Der Seher vom Bodensee trifft mal wieder den Ton; die religiösen Bezüge, die auch
diesmal nicht fehlen, werden äußerst dezent hergestellt, bar jeder Aufdringlichkeit.
Vom „unbekannten Gott“ schreibt die Theologin einmal, „an den man nur ohne Hoffnung
auf Hoffnung hin glauben könne“. „Keine menschliche Gebärde“ sei „an sich fragwürdiger,
bedenklicher, gefährlicher als eben die religiöse Gebärde“. Das wirkt, gerade weil
es so nebenhin bemerkt wird. „Verstehen Sie wenigstens so viel, dass Religion etwas
anderes ist als das, was in unserer Welt dafür gehalten sein will?“ Die Schreiberin
ist eine Jüngerin Karl Barths; ihr Mantra ist die Voraussetzungslosigkeit. „Mein Job
ist das Unfassbare. Das Wunderbare. Das Wunder... Ein Theologe ist ein irreparabel
verwundeter Mensch.“ Theologie: die „Wissenschaft, die keine sein dürfte“.
Mitten
in dieses Papier- (und ab einem gewissen Punkt auch Email-) Gespräch platzt dann das
Verhängnis: Der Mann der Theologin, Typ visionärer Unternehmer, bekommt Krebs. Mit
einem Mal dringt in den Roman ein ganz anderer Ton, die Leichtigkeit ist dahin. Bei
einer Radtour, auf der der Kranke Kraft für die Chemotherapie sammeln will, besucht
er mit seiner Frau den Tübke-Altar in Clausthal. „Wir saßen in der Kirche und schauten
den Gekreuzigten an. Aber wie. Und wie schaut er der uns an... Es ist so viel Unsägliches
passiert... Die an den Balken genagelten Hände wirken so ausgebreitet wie für eine
Umarmung... Die von einem einzigen Nagel durchbohrten Füße wirken, als verberge ein
Fuß den anderen, wie es schüchterne Mädchen tun. Also eine Einladungsgestik durch
nichts als Marter und Schmerz.“ An diesem Punkt des Romans weiß man noch nicht,
dass hier eine wahnwitzige Jagd beginnt, ein Endspiel, über das die Emails der Theologin
an den Schriftsteller Auskunft geben und das mit einem tiefen Schrecken endet. Einem
Schrecken, auf den einen nichts vorbereitet hat, es sei denn, man hätte hinter Walsers
Humor schon geachtet auf das heimlich sich anbahnende Dunkel.
Ausgerechnet
ein früherer „Zeuge Jehovas“ erklärt kurz vor dem verstörenden Finale einmal, was
das „Reich Gottes“ ist. „Es gebe kaum etwas in der Heiligen Schrift, das weniger bestimmt
sei als das Reich Gottes.“ Und dann taucht gesprächsweise ein Hinweis auf den Traum
des Nebukadnezar im alttestamentlichen Buch Daniel auf: „dass ein Standbild, groß
und reich und wie für immer, einfach zerfällt“. Auch im „Dreizehnten Kapitel“ (einem
echten Walser) geht es, das stellt sich erst nach einer Weile heraus, um einen solchen
plötzlichen Verfall.