2013-01-20 10:43:44

Aktenzeichen: Gertrud von Helfta


RealAudioMP3 Aus der Reihe: Jahr des Glaubens. Eine Sendung von Aldo Parmeggiani.

Hl. Gertrud die Große – außergewöhnliche Mystikerin, die ganz aus dem Geist der Liturgie und der Heiligen Schrift lebte. Über sie sagte Papst Benedikt XVI. bei einer Generalaudienz:

„In der Reihe von Katechesen über große Frauengestalten möchte ich heute über eine weitere bedeutende Gestalt des Klosters Helfta sprechen, nämlich über die heilige Gertrud die Große. Als einzige Deutsche trägt diese außergewöhnliche Mystikerin den Beinamen „die Große“.

Sie wurde 1256 in Thüringen geboren; man weiß aber nichts von ihrer genauen Herkunft und ihrer frühesten Kindheit. Sie kam schon im Alter von fünf Jahren als Waise zur Obhut ins Kloster Helfta. Unter der Äbtissin Gertrud von Hackeborn und ihrer Lehrerin Mechthild von Hackeborn, deren Biographin sie später wurde, erhielt sie dort eine umfassende wissenschaftliche und geistliche Ausbildung – Literatur, Sprachen, Musik –, und die hochbegabte Schülerin wurde dann selber Ordensfrau. Zwanzig Jahre lang führte sie ein unauffälliges Leben, als eine unter den Schwestern des Klosters, ehe 1281 eine Christusvision sie aufrüttelte und gleichsam bekehrte, sie verwandelte. Sie hat sozusagen, wie sie schreibt, eine doppelte Bekehrung erlebt: Während sie bisher leidenschaftlich die weltliche Literatur las, wurde nun die Heilige Schrift ihre ganze Leidenschaft; und während sie bisher, wie sie sagt, eine eher „schlampige Ordensfrau“ gewesen war, hat sie nun mit Leidenschaft und innerlicher Freude und Begeisterung ihr Leben als Ordensfrau gelebt, in der Liturgie, in der Regel, in allem, was zu diesem Leben gehört. Sie wurde so zu einer Lehrerin für viele, indem sie ganz aus dem Geist der Liturgie und der Heiligen Schrift lebte.

Ihre geistlichen Erfahrungen schrieb sie auf göttliche Weisung hin nieder; nur zwei ihrer Schriften sind erhalten: „Der Gesandte der göttlichen Liebe“ und die geistlichen Übungen „Exercitia spiritualia“. Sie erkannte, dass Gott sie als sein Werkzeug rief, dass sie nicht für sich allein diese Gnaden erhielt, sondern dass sie für die anderen da war; und sie war dankbar dafür, dass Christus ihr als Zeichen seiner Gnade seine Wundmale gleichsam ins Herz eindrückte. Sie hatte auch eine besondere Verehrung für das Herz Jesu, das höchste Symbol der Menschliebe Gottes, und ihre Herz-Jesu-Mystik und ihre Gebete haben die Frömmigkeitsgeschichte nachhaltig geprägt.

Die heilige Gertrud von Helfta zeigt uns, wie wichtig die persönliche Beziehung zu Christus ist, die sich aus dem Gebet, der Heiligen Schrift, der Liturgie der Kirche und den Sakramenten nährt. Mühen wir uns also auch, die Liebe zur Schrift, zur Bibel zu finden, die Liebe zur Liturgie und von ihr das persönliche Beten zu erlernen und so Christus nahe zu kommen und die Freude zu erlernen, die die heilige Gertrud hatte. Sie hat gesagt: Wenn ich tausend Jahre jetzt nur noch im Leid leben müsste, die Erinnerung an das Schöne, das ich erfahren habe in der Begegnung mit Christus, würde ausreichen, um mich immer froh und glücklich zu halten. Versuchen wir diese Nähe zu Christus zu finden und so wahre Christen zu werden, erfüllt mit der Freude, den zu kennen, auf den alles ankommt und auf den unser Leben zugeht.“


Das sehr verehrte Hörerinnen und Hörer war Papst Benedikt XVI. am 6. Oktober 2010 bei der Generalaudienz auf dem Petersplatz in Rom. Aus der Päpstlichen Katechese haben wir erfahren, dass Gertrud in ihrem schriftstellerischen Werk mit hoher Sprachkunst eine Theologie ganz eigener Prägung entwickelte, wobei sie geradezu eine mystische „Summa“ der Theologie und der religiösen Spekulation ihrer Zeit verfasste. Im Mittelpunkt steht die umfassende, bis in kosmische Dimensionen ausgreifende Botschaft von der „Gott-Liebe“.

Wohl selten in der Geschichte des Christentums wurde Gott so ausschließlich als Liebe gesehen wie bei Gertrud. Aus der Sehnsucht des liebenden Gottes nach dem Menschen, insbesondere aus der Menschwerdung Gottes, leitet sich die unvergleichliche Würde eines jeden Menschen ab. Diese Erkenntnisse ihrer Gottesschau setzte Gertrud als Ratgeberin und Seelsorgerin in die Tat um, wobei sie in der „Freiheit des lebendigen Geistes“ auch prophetische und priesterliche Aufgaben wahrnahm.

In der literarischen Formgebung band Gertrud ihre visionären Erfahrungen aufs engste an die gültigen Formen biblischer Sprache und kirchlicher Riten. So macht sie deutlich, dass ihre Rede nicht nur eine „subjektiv“ - persönliche Erfahrung ist, sondern in der hl. Schrift und in den Traditionen der Kirche ihr „objektiv“ - allgemeingültiges Fundament hat. Ihre „Mystik“ ist nicht Esoterik, sondern moderne, den Zeitproblemen zugewandte Seelsorge.

Zu weltweiter Wirkung gelangten die Werke Gertruds vor allem durch die Drucklegung der lateinischen Texte im Jahre 1536. Der Herausgeber, der Kölner Kartäusermönch Johannes Justus von Landsberg, sah in Gertruds Theologie die Möglichkeit, die beginnende Spaltung der Christenheit durch Besinnung auf die allen gemeinsame biblisch-christliche Grundlage zu überwinden. In der Folgezeit gelangte Gertrud zu weltweiter Wirkung, vor allem in den Ländern des romanischen Sprachraums; sie gilt als Patronin Lateinamerikas.

Mit Genehmigung des Autors hören Sie jetzt Auszüge aus die ‚Exercitia spiritualia’ der Mystikerin Gertrud von Helfta – ein Hauptwerk der christlichen Mystik von Dr. Siegfried Ringler.

Gertrud ist nicht, wie es in der Art des hagiographischen Frauenklischees noch Lexika des 20. Jh.s darstellen, die fromme Nonne von „reiner und froher Kindlichkeit“, die Erbauliches zu berichten weiß, sondern sie ist eine hoch gebildete Frau, die viele Bereiche des Lebens kennt und die souverän über das theologische Wissen ihrer Zeit verfügt. Das biblische Denken ist ihr wie selbstverständlich gegenwärtig; sie kennt die großen Mystiker und die Theologen der Scholastik und wohl noch manche andere mehr. Sie hat deren Aussagen, Frage- und Problemstellungen aufgenommen und reflektiert, um daraus schöpferisch eine mystische Theologie ganz eigener Prägung zu entwickeln. Diese Theologie ist aufs engste rückgebunden nicht nur an biblische Sprache, sondern auch an den Ablauf kirchlicher Riten. Es gibt wohl nur wenige Werke der Mystik, die so eng wie die „Exercitia“ mit den Formen des kirchlichen religiösen Lebens verbunden sind. So macht Gertrud deutlich, dass „Mystik für sie nicht ein nur „subjektives“ Gotteserleben ist. Die „objektiven“ Formen der Religiosität sollen nicht durch ein subjektives Erleben ersetzt wer- den; vielmehr soll das gültig Vorgegebene in der personalen Erfahrung eine vertiefte, aufs Wesentliche zielende Sinngebung erhalten, wie umgekehrt diese personale Erfahrung durch die Rückbindung an objektiv Gültiges ihre Bestätigung erhält.

In Form und Inhalt gibt Gertrud somit in den „Exercitia“ auf kunstvolle, höchst „verdichtete“ Art gewissermaßen die „Summe“ all ihres religiösen Wissens, Lebens und Erlebens, die zugleich auch geradezu eine „Summa“ des theologischen Wissens und der religiösen Spekulation ihrer Zeit wird: als der großartige Versuch, in einer wahrhaften „Summa mystica“ alles Seiende von einem einzigen Prinzip her zu deuten. Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wozu bin ich auf Erden? Auf diese zentralen, existentiellen Menschheitsfragen antwortet Gertrud in einer schlüssigen Konzeption: Geschaffen aus überströmender Liebe Gottes und bestimmt, in dieser Liebe ewiges Leben zu haben, soll der Mensch in und aus dieser Liebe leben, auf dass sie für ihn und für andere fruchtbar werde. In der „Gott-Liebe“, aus der alles entströmt und in die alles zurückkehrt, finden Kosmos und Mensch ihren Ursprung und ihr letztes Ziel.

Auch wenn die Rechtgläubigkeit Gertruds nie infragegestellt wurde, so unterschied sich dieses ihr im eigentlichen Sinne „radikales“ Gottes- und Menschenbild doch weit von den vor- herrschenden theologischen Lehren. Die Leserinnen und Leser von Gertruds Schriften wussten von Anfang an, dass sie auf Ungewöhnliches stoßen würden. Manche heutigen Leser werden sich allerdings durch die Dichte des Textes und die Fremdheit der Sprache zuerst schwer tun, diese Sprengkraft zu entdecken. Wie die Bildfolgen mittelalterlicher Glasfenster, so erfordern auch die „Exercitia“ einen Betrachter, der sich Zeit nimmt. Die Konzeption ihres theologischen Programms, die Vielfalt wechselseitiger Bezüge und unterschiedlicher Aussageebenen werden sich einem nur „touristischen“ Blick nicht erschließen. Und auch nur derjenige, der die Bildsprache biblischer und mittelalterlicher Texte zu lesen weiß, wird Gertruds Liebesmetaphorik nicht als Ausdruck verdrängter oder sublimierter Sexualität missverstehen, sondern in ihr diejenige Form sehen, in der ein neues, nämlich persönliches, individuelles Verhältnis des Menschen zu Gott „zur Sprache kommt“: wenn Geist, Seele und Sinne „von Herz zu Herz“ sprechen. Es ist die „modernste“ Form religiösen Denkens und Sprechens des 12. und 13. Jh.s – einer Epoche, die eine der theologisch und religiös fruchtbarsten in der Geschichte des Christentums ist.

Gertruds „Exercitia“ gehören zweifellos zu den theologisch und künstlerisch bedeutsamsten Werken dieser Epoche. Sie zeugen von einer revolutionären Änderung des religiösen Denkens. Der unendlich große Gott, der Weltenschöpfer, der Himmelskönig, der Herr der Heer- scharen, er kommt dem Menschen unendlich nahe, als liebestrunkenes Du, das in ihm Wohnung nimmt und sich mit ihm vereint. Der Mensch aber, in seiner unendlichen Winzigkeit und Nichtigkeit, ein Staubkorn im Weltall, von dem keine Spur hinterbleibt, er gewinnt in der Begegnung mit Gott unendliche Würde, als das von Gott geliebte und Gott liebende Ich, das in das Göttliche hinein genommen wird und Gott von Angesicht zu Angesicht schaut. Diese ungeheuren Gegensätze werden von Gertrud nicht harmonisiert. So spricht sie nicht wie andere Mystikerinnen von der Gottesgeburt in der Seele oder von einer Vergottung des Menschen, da dann diese Gegensätze überwunden scheinen könnten. In Gertruds „Exercitia“ bleibt, auch in der innigsten Einung, der Wesensunterschied von Gott und Mensch, von Schöpfer und Geschöpf, stets bewusst. Aber gerade dass Gott in seiner unendlichen Größe dem Menschen unendlich nahe kommt, und dass der Mensch in seiner unendlichen Nichtigkeit zu unendlicher Würde berufen ist: gerade dies ist das überwältigende religiöse Erleben, das Gertrud in ihren „Exercitia“ vermitteln will und das dann ihre späteren Leser faszinierte.

Die Mystik des Mittelalters war in Deutschland ganz wesentlich von Frauen geprägt. Auch die Mystik eines Eckhart, Tauler, Seuse ist ohne den Diskurs mit den religiös innovativen Frauen überhaupt nicht denkbar. Es wird hier eine Religiosität entwickelt, die tatsächlich alternativ zur damals vorherrschenden kirchlichen Belehrung und Praxis war. Führt man sie auf ihre Grundlagen zurück, so scheinen vor allem drei Aspekte, wie sie gerade auch in den „Exercitia“ hervortreten, heute von unmittelbarer Aktualität:

1. Gertrud zeigt ein Gottesbild, das völlig frei von Angst ist und den Menschen von Angst befreit und zum Leben beruft. Gott erscheint hier ausschließlich als „fascinosum“: als derjenige, der den Menschen durch seine Liebe ganz für sich einnimmt; die Furcht vor Gott, das „tremendum“, ist eher ein Teil dieses „fascinosum“, indem die Erfahrung des gegenwärtigen Gottes den Menschen erschüttern macht.

2. Wesentliches Element – und nicht nur formales Mittel - dieser Religiosität ist die Art, wie dieses Gottesbild erfahren wird. Kennzeichnend ist – in der Tradition der Bibel – ein Spre- chen nicht in Begriffen, sondern in Bildern. Diese Bilder sind zwar durchaus intellektuell genauestens reflektiert d.h. sie entsprechen genau der beabsichtigten theologischen Aus- sage. sie vermitteln die Aussage aber ganzheitlich, d.h. sie sprechen Geist und Sinne an. Diese Bilder sind „offen“, indem sie dem Leser/Hörer die Freiheit der eigenen Assoziation lassen und ihn nicht durch dogmatische Formeln im Sinne späterer Dogmen „definitiv/eingrenzend“ „festlegen“. So sind die „Exercitia“ dann ja auch kein theologisches Lehrbuch im herkömmlichen Sinn, sondern ein Meditationstext, der den Lesenden zur Freiheit der eigenen Gotteserfahrung anregen will.

3. Sprachliche Grundstruktur ist das dialogische Sprechen. Dass Jesus das fleischgewordene Wort Gottes ist, wird hier ernst genommen: Gott ist ein Gott des Gesprächs. Wenn somit dann Lehre im Gespräch vermittelt wird, dann steht die Frauenmystik in einer langen Tradition, die aber spezifisch weiterentwickelt wird: es ist kein Lehrgespräch eines Lehrers zu einem zu Belehrenden, sondern ein Gespräch zweier Liebender, die – geradezu Partnerschaftlich ihre Gedanken und Empfindungen austauschen.

Das waren Betrachtungen über die Heilige Gertrud von Helfta – sie stammen zum Teil aus der Feder des Germanisten Dr. Siegfried Ringler.

(rv 17.01.2013 ap)








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