Aus der Reihe: Jahr
des Glaubens. Eine Sendung von Aldo Parmeggiani.
Hl. Gertrud die Große – außergewöhnliche
Mystikerin, die ganz aus dem Geist der Liturgie und der Heiligen Schrift lebte. Über
sie sagte Papst Benedikt XVI. bei einer Generalaudienz:
„In der Reihe von
Katechesen über große Frauengestalten möchte ich heute über eine weitere bedeutende
Gestalt des Klosters Helfta sprechen, nämlich über die heilige Gertrud die Große.
Als einzige Deutsche trägt diese außergewöhnliche Mystikerin den Beinamen „die Große“.
Sie
wurde 1256 in Thüringen geboren; man weiß aber nichts von ihrer genauen Herkunft und
ihrer frühesten Kindheit. Sie kam schon im Alter von fünf Jahren als Waise zur Obhut
ins Kloster Helfta. Unter der Äbtissin Gertrud von Hackeborn und ihrer Lehrerin Mechthild
von Hackeborn, deren Biographin sie später wurde, erhielt sie dort eine umfassende
wissenschaftliche und geistliche Ausbildung – Literatur, Sprachen, Musik –, und die
hochbegabte Schülerin wurde dann selber Ordensfrau. Zwanzig Jahre lang führte sie
ein unauffälliges Leben, als eine unter den Schwestern des Klosters, ehe 1281 eine
Christusvision sie aufrüttelte und gleichsam bekehrte, sie verwandelte. Sie hat sozusagen,
wie sie schreibt, eine doppelte Bekehrung erlebt: Während sie bisher leidenschaftlich
die weltliche Literatur las, wurde nun die Heilige Schrift ihre ganze Leidenschaft;
und während sie bisher, wie sie sagt, eine eher „schlampige Ordensfrau“ gewesen war,
hat sie nun mit Leidenschaft und innerlicher Freude und Begeisterung ihr Leben als
Ordensfrau gelebt, in der Liturgie, in der Regel, in allem, was zu diesem Leben gehört.
Sie wurde so zu einer Lehrerin für viele, indem sie ganz aus dem Geist der Liturgie
und der Heiligen Schrift lebte.
Ihre geistlichen Erfahrungen schrieb sie auf
göttliche Weisung hin nieder; nur zwei ihrer Schriften sind erhalten: „Der Gesandte
der göttlichen Liebe“ und die geistlichen Übungen „Exercitia spiritualia“. Sie erkannte,
dass Gott sie als sein Werkzeug rief, dass sie nicht für sich allein diese Gnaden
erhielt, sondern dass sie für die anderen da war; und sie war dankbar dafür, dass
Christus ihr als Zeichen seiner Gnade seine Wundmale gleichsam ins Herz eindrückte.
Sie hatte auch eine besondere Verehrung für das Herz Jesu, das höchste Symbol der
Menschliebe Gottes, und ihre Herz-Jesu-Mystik und ihre Gebete haben die Frömmigkeitsgeschichte
nachhaltig geprägt.
Die heilige Gertrud von Helfta zeigt uns, wie wichtig die
persönliche Beziehung zu Christus ist, die sich aus dem Gebet, der Heiligen Schrift,
der Liturgie der Kirche und den Sakramenten nährt. Mühen wir uns also auch, die Liebe
zur Schrift, zur Bibel zu finden, die Liebe zur Liturgie und von ihr das persönliche
Beten zu erlernen und so Christus nahe zu kommen und die Freude zu erlernen, die die
heilige Gertrud hatte. Sie hat gesagt: Wenn ich tausend Jahre jetzt nur noch im Leid
leben müsste, die Erinnerung an das Schöne, das ich erfahren habe in der Begegnung
mit Christus, würde ausreichen, um mich immer froh und glücklich zu halten. Versuchen
wir diese Nähe zu Christus zu finden und so wahre Christen zu werden, erfüllt mit
der Freude, den zu kennen, auf den alles ankommt und auf den unser Leben zugeht.“
Das
sehr verehrte Hörerinnen und Hörer war Papst Benedikt XVI. am 6. Oktober 2010 bei
der Generalaudienz auf dem Petersplatz in Rom. Aus der Päpstlichen Katechese haben
wir erfahren, dass Gertrud in ihrem schriftstellerischen Werk mit hoher Sprachkunst
eine Theologie ganz eigener Prägung entwickelte, wobei sie geradezu eine mystische
„Summa“ der Theologie und der religiösen Spekulation ihrer Zeit verfasste. Im Mittelpunkt
steht die umfassende, bis in kosmische Dimensionen ausgreifende Botschaft von der
„Gott-Liebe“.
Wohl selten in der Geschichte des Christentums wurde Gott so
ausschließlich als Liebe gesehen wie bei Gertrud. Aus der Sehnsucht des liebenden
Gottes nach dem Menschen, insbesondere aus der Menschwerdung Gottes, leitet sich die
unvergleichliche Würde eines jeden Menschen ab. Diese Erkenntnisse ihrer Gottesschau
setzte Gertrud als Ratgeberin und Seelsorgerin in die Tat um, wobei sie in der „Freiheit
des lebendigen Geistes“ auch prophetische und priesterliche Aufgaben wahrnahm.
In
der literarischen Formgebung band Gertrud ihre visionären Erfahrungen aufs engste
an die gültigen Formen biblischer Sprache und kirchlicher Riten. So macht sie deutlich,
dass ihre Rede nicht nur eine „subjektiv“ - persönliche Erfahrung ist, sondern in
der hl. Schrift und in den Traditionen der Kirche ihr „objektiv“ - allgemeingültiges
Fundament hat. Ihre „Mystik“ ist nicht Esoterik, sondern moderne, den Zeitproblemen
zugewandte Seelsorge.
Zu weltweiter Wirkung gelangten die Werke Gertruds vor
allem durch die Drucklegung der lateinischen Texte im Jahre 1536. Der Herausgeber,
der Kölner Kartäusermönch Johannes Justus von Landsberg, sah in Gertruds Theologie
die Möglichkeit, die beginnende Spaltung der Christenheit durch Besinnung auf die
allen gemeinsame biblisch-christliche Grundlage zu überwinden. In der Folgezeit gelangte
Gertrud zu weltweiter Wirkung, vor allem in den Ländern des romanischen Sprachraums;
sie gilt als Patronin Lateinamerikas.
Mit Genehmigung des Autors hören Sie
jetzt Auszüge aus die ‚Exercitia spiritualia’ der Mystikerin Gertrud von Helfta –
ein Hauptwerk der christlichen Mystik von Dr. Siegfried Ringler.
Gertrud ist
nicht, wie es in der Art des hagiographischen Frauenklischees noch Lexika des 20.
Jh.s darstellen, die fromme Nonne von „reiner und froher Kindlichkeit“, die Erbauliches
zu berichten weiß, sondern sie ist eine hoch gebildete Frau, die viele Bereiche des
Lebens kennt und die souverän über das theologische Wissen ihrer Zeit verfügt. Das
biblische Denken ist ihr wie selbstverständlich gegenwärtig; sie kennt die großen
Mystiker und die Theologen der Scholastik und wohl noch manche andere mehr. Sie hat
deren Aussagen, Frage- und Problemstellungen aufgenommen und reflektiert, um daraus
schöpferisch eine mystische Theologie ganz eigener Prägung zu entwickeln. Diese Theologie
ist aufs engste rückgebunden nicht nur an biblische Sprache, sondern auch an den Ablauf
kirchlicher Riten. Es gibt wohl nur wenige Werke der Mystik, die so eng wie die „Exercitia“
mit den Formen des kirchlichen religiösen Lebens verbunden sind. So macht Gertrud
deutlich, dass „Mystik für sie nicht ein nur „subjektives“ Gotteserleben ist. Die
„objektiven“ Formen der Religiosität sollen nicht durch ein subjektives Erleben ersetzt
wer- den; vielmehr soll das gültig Vorgegebene in der personalen Erfahrung eine vertiefte,
aufs Wesentliche zielende Sinngebung erhalten, wie umgekehrt diese personale Erfahrung
durch die Rückbindung an objektiv Gültiges ihre Bestätigung erhält.
In Form
und Inhalt gibt Gertrud somit in den „Exercitia“ auf kunstvolle, höchst „verdichtete“
Art gewissermaßen die „Summe“ all ihres religiösen Wissens, Lebens und Erlebens, die
zugleich auch geradezu eine „Summa“ des theologischen Wissens und der religiösen Spekulation
ihrer Zeit wird: als der großartige Versuch, in einer wahrhaften „Summa mystica“ alles
Seiende von einem einzigen Prinzip her zu deuten. Woher komme ich? Wohin gehe ich?
Wozu bin ich auf Erden? Auf diese zentralen, existentiellen Menschheitsfragen antwortet
Gertrud in einer schlüssigen Konzeption: Geschaffen aus überströmender Liebe Gottes
und bestimmt, in dieser Liebe ewiges Leben zu haben, soll der Mensch in und aus dieser
Liebe leben, auf dass sie für ihn und für andere fruchtbar werde. In der „Gott-Liebe“,
aus der alles entströmt und in die alles zurückkehrt, finden Kosmos und Mensch ihren
Ursprung und ihr letztes Ziel.
Auch wenn die Rechtgläubigkeit Gertruds nie
infragegestellt wurde, so unterschied sich dieses ihr im eigentlichen Sinne „radikales“
Gottes- und Menschenbild doch weit von den vor- herrschenden theologischen Lehren.
Die Leserinnen und Leser von Gertruds Schriften wussten von Anfang an, dass sie auf
Ungewöhnliches stoßen würden. Manche heutigen Leser werden sich allerdings durch die
Dichte des Textes und die Fremdheit der Sprache zuerst schwer tun, diese Sprengkraft
zu entdecken. Wie die Bildfolgen mittelalterlicher Glasfenster, so erfordern auch
die „Exercitia“ einen Betrachter, der sich Zeit nimmt. Die Konzeption ihres theologischen
Programms, die Vielfalt wechselseitiger Bezüge und unterschiedlicher Aussageebenen
werden sich einem nur „touristischen“ Blick nicht erschließen. Und auch nur derjenige,
der die Bildsprache biblischer und mittelalterlicher Texte zu lesen weiß, wird Gertruds
Liebesmetaphorik nicht als Ausdruck verdrängter oder sublimierter Sexualität missverstehen,
sondern in ihr diejenige Form sehen, in der ein neues, nämlich persönliches, individuelles
Verhältnis des Menschen zu Gott „zur Sprache kommt“: wenn Geist, Seele und Sinne „von
Herz zu Herz“ sprechen. Es ist die „modernste“ Form religiösen Denkens und Sprechens
des 12. und 13. Jh.s – einer Epoche, die eine der theologisch und religiös fruchtbarsten
in der Geschichte des Christentums ist.
Gertruds „Exercitia“ gehören zweifellos
zu den theologisch und künstlerisch bedeutsamsten Werken dieser Epoche. Sie zeugen
von einer revolutionären Änderung des religiösen Denkens. Der unendlich große Gott,
der Weltenschöpfer, der Himmelskönig, der Herr der Heer- scharen, er kommt dem Menschen
unendlich nahe, als liebestrunkenes Du, das in ihm Wohnung nimmt und sich mit ihm
vereint. Der Mensch aber, in seiner unendlichen Winzigkeit und Nichtigkeit, ein Staubkorn
im Weltall, von dem keine Spur hinterbleibt, er gewinnt in der Begegnung mit Gott
unendliche Würde, als das von Gott geliebte und Gott liebende Ich, das in das Göttliche
hinein genommen wird und Gott von Angesicht zu Angesicht schaut. Diese ungeheuren
Gegensätze werden von Gertrud nicht harmonisiert. So spricht sie nicht wie andere
Mystikerinnen von der Gottesgeburt in der Seele oder von einer Vergottung des Menschen,
da dann diese Gegensätze überwunden scheinen könnten. In Gertruds „Exercitia“ bleibt,
auch in der innigsten Einung, der Wesensunterschied von Gott und Mensch, von Schöpfer
und Geschöpf, stets bewusst. Aber gerade dass Gott in seiner unendlichen Größe dem
Menschen unendlich nahe kommt, und dass der Mensch in seiner unendlichen Nichtigkeit
zu unendlicher Würde berufen ist: gerade dies ist das überwältigende religiöse Erleben,
das Gertrud in ihren „Exercitia“ vermitteln will und das dann ihre späteren Leser
faszinierte.
Die Mystik des Mittelalters war in Deutschland ganz wesentlich
von Frauen geprägt. Auch die Mystik eines Eckhart, Tauler, Seuse ist ohne den Diskurs
mit den religiös innovativen Frauen überhaupt nicht denkbar. Es wird hier eine Religiosität
entwickelt, die tatsächlich alternativ zur damals vorherrschenden kirchlichen Belehrung
und Praxis war. Führt man sie auf ihre Grundlagen zurück, so scheinen vor allem drei
Aspekte, wie sie gerade auch in den „Exercitia“ hervortreten, heute von unmittelbarer
Aktualität:
1. Gertrud zeigt ein Gottesbild, das völlig frei von Angst ist
und den Menschen von Angst befreit und zum Leben beruft. Gott erscheint hier ausschließlich
als „fascinosum“: als derjenige, der den Menschen durch seine Liebe ganz für sich
einnimmt; die Furcht vor Gott, das „tremendum“, ist eher ein Teil dieses „fascinosum“,
indem die Erfahrung des gegenwärtigen Gottes den Menschen erschüttern macht.
2.
Wesentliches Element – und nicht nur formales Mittel - dieser Religiosität ist die
Art, wie dieses Gottesbild erfahren wird. Kennzeichnend ist – in der Tradition der
Bibel – ein Spre- chen nicht in Begriffen, sondern in Bildern. Diese Bilder sind zwar
durchaus intellektuell genauestens reflektiert d.h. sie entsprechen genau der beabsichtigten
theologischen Aus- sage. sie vermitteln die Aussage aber ganzheitlich, d.h. sie sprechen
Geist und Sinne an. Diese Bilder sind „offen“, indem sie dem Leser/Hörer die Freiheit
der eigenen Assoziation lassen und ihn nicht durch dogmatische Formeln im Sinne späterer
Dogmen „definitiv/eingrenzend“ „festlegen“. So sind die „Exercitia“ dann ja auch kein
theologisches Lehrbuch im herkömmlichen Sinn, sondern ein Meditationstext, der den
Lesenden zur Freiheit der eigenen Gotteserfahrung anregen will.
3. Sprachliche
Grundstruktur ist das dialogische Sprechen. Dass Jesus das fleischgewordene Wort Gottes
ist, wird hier ernst genommen: Gott ist ein Gott des Gesprächs. Wenn somit dann Lehre
im Gespräch vermittelt wird, dann steht die Frauenmystik in einer langen Tradition,
die aber spezifisch weiterentwickelt wird: es ist kein Lehrgespräch eines Lehrers
zu einem zu Belehrenden, sondern ein Gespräch zweier Liebender, die – geradezu Partnerschaftlich
ihre Gedanken und Empfindungen austauschen.
Das waren Betrachtungen über die
Heilige Gertrud von Helfta – sie stammen zum Teil aus der Feder des Germanisten Dr.
Siegfried Ringler.