Urbi et Orbi: Die Wahrheit ist hervorgesprosst und trägt Liebe, Gerechtigkeit und
Frieden
Die Ansprache des Papstes beim Segen Urbi et Orbi
Liebe Brüder und Schwestern
aus Rom und der ganzen Welt, frohe Weihnachten euch allen und euren Familien!
Meinen
Weihnachtsglückwunsch drücke ich in diesem Jahr des Glaubens mit den Psalmworten aus:
„Die Wahrheit ist aus der Erde hervorgesproßt.“ Im Text des Psalms finden wir sie
allerdings im Futur: „Die Wahrheit wird aus der Erde hervorsprossen“ – eine Ankündigung,
eine Verheißung, die von anderen Aussagen begleitet wird, die im ganzen so lauten:
„Liebe und Wahrheit werden einander begegnen; / Gerechtigkeit und Friede einander
küssen. / Die Wahrheit wird aus der Erde hervorsprossen / Gerechtigkeit vom Himmel
herniederblicken. / Der Herr wird gewiss seinen Segen spenden / und unser Land wird
seinen Ertrag geben. / Gerechtigkeit wird vor ihm hergehen: / Seine Schritte werden
den Weg vorzeichnen“ (Ps 85 [84], 11-14).
Heute hat sich dieses prophetische
Wort erfüllt! In Jesus, der in Bethlehem aus der Jungfrau Maria geboren wurde, sind
wirklich Liebe und Wahrheit einander begegnet, haben sich Gerechtigkeit und Friede
geküsst. Die Wahrheit ist aus der Erde hervorgesprosst, und die Gerechtigkeit hat
vom Himmel herniedergeblickt. Mit knappen, treffenden Worten kommentiert der heilige
Augustinus: „Was ist die Wahrheit? Der Sohn Gottes. Was ist die Erde? Das Fleisch.
Frage dich, woraus Christus geboren ist, und du siehst, warum die Wahrheit aus der
Erde hervorgesproßt ist … die Wahrheit ist aus der Jungfrau Maria geboren“ (En. in
Ps. 84,13). Und in einer Ansprache zu Weihnachten sagt er: „Mit diesem Fest, das jedes
Jahr wiederkehrt, feiern wir also den Tag, an dem sich die Prophetie erfüllte: „Die
Wahrheit ist aus der Erde hervorgesprosst, und die Gerechtigkeit hat vom Himmel herniedergeblickt“.
Die Wahrheit, die im Schoß des Vaters ruht, ist aus der Erde hervorgesprosst, damit
sie auch im Schoß einer Mutter ruhe. Die Wahrheit, welche die ganze Welt trägt, ist
aus der Erde hervorgesprosst, damit diese von den Händen einer Frau getragen werde
… Die Wahrheit, die zu fassen der Himmel nicht ausreicht, ist aus der Erde hervorgesprosst,
um in eine Krippe gelegt zu werden. Zu wessen Nutzen hat ein so großer Gott sich so
erniedrigt? Sicher nicht zu seinem eigenen, sondern zu unserem großen Nutzen, wenn
wir glauben“ (Sermones, 185,1).
„Diese Macht des Menschen, sich Gott
zu verschließen, kann uns Angst machen.“
„Wenn wir glauben.“ Da sieht
man die Kraft des Glaubens! Gott hat alles getan, hat das Unmögliche getan: Er ist
Mensch geworden. Seine Allmacht der Liebe hat verwirklicht, was menschliches Verstehen
übersteigt: Der Unendliche ist ein Kind geworden, ist in die Menschheit eingetreten.
Und doch kann ebendieser Gott nicht in mein Herz eintreten, wenn ich ihm nicht die
Türe öffne. Porta fidei! Die Tür des Glaubens! Wir könnten vor dieser unserer umgekehrten
Allmacht erschrecken. Diese Macht des Menschen, sich Gott zu verschließen, kann uns
Angst machen. Doch da ist die Wirklichkeit, die diesen dunklen Gedanken vertreibt,
die Hoffnung, welche die Angst besiegt: „Die Wahrheit ist hervorgesprosst! Gott ist
geboren! Das Land gab seinen Ertrag“ (Ps 67,7). Ja, es gibt eine gute, gesunde „Erde“,
frei von jedem Egoismus und jedem Sich-Verschließen. Es gibt auf der Welt eine Erde,
die Gott vorbereitet hat, um zu kommen und in unserer Mitte Wohnung zu nehmen. Eine
Wohnung für seine Gegenwart in der Welt. Diese Erde existiert, und auch heute, im
Jahr 2012, ist aus dieser Erde die Wahrheit hervorgesprosst! Darum gibt es Hoffnung
in der Welt, eine zuverlässige Hoffnung, auch in den schwierigsten Momenten und Situationen.
Die Wahrheit ist hervorgesprosst und trägt Liebe, Gerechtigkeit und Frieden.
Frieden
für Syrien und den ganzen Nahen Osten
Ja, möge der Frieden hervorsprossen
für die Bevölkerung Syriens, die zutiefst verletzt und geteilt ist durch einen Konflikt,
der nicht einmal die Wehrlosen verschont und unschuldige Opfer hinwegrafft. Noch einmal
rufe ich dazu auf, das Blutvergießen zu beenden, die Hilfeleistungen für die Flüchtlinge
und die Evakuierten zu erleichtern und auf dem Weg des Dialogs eine politische Lösung
für den Konflikt zu verfolgen.
Möge der Frieden in dem Land hervorsprossen,
in dem der Erlöser geboren wurde; Er gebe Israelis und Palästinensern den Mut, allzu
vielen Jahren der Kämpfe und Spaltungen ein Ende zu setzen und mit Entschiedenheit
den Verhandlungsweg einzuschlagen.
Mögen in den Ländern Nordafrikas, die auf
der Suche nach einer neuen Zukunft einen tiefgreifenden Umbruch erleben – im besonderen
in Ägypten, diesem geschätzten und durch die Kindheit Jesu gesegneten Land – die Bürger
gemeinsam Gesellschaftsformen aufbauen, die auf die Gerechtigkeit und auf die Achtung
der Freiheit und der Würde jedes Menschen gegründet sind.
Weihnachtswünsche
für China
Der Friede sprosse auch im weiten asiatischen Kontinent hervor.
Möge das Jesuskind die zahlreichen Völker, die in jenen Ländern wohnen – und in besonderer
Weise jene, die an Christus glauben – mit Wohlwollen betrachten. Der König des Friedens
richte ferner seinen Blick auf die neuen Führungspersönlichkeiten der Volksrepublik
China, für die hohe Aufgabe, die sie erwartet. Es ist mein Wunsch, daß der Beitrag
der Religionen – in der Achtung einer jeden gegenüber – so zur Geltung gebracht werde,
dass diese beim Aufbau einer solidarischen Gesellschaft mitwirken können, zum Wohl
jenes edlen Volkes und der ganzen Welt.
Das Geburtsfest Christi begünstige
die Wiederkehr des Friedens in Mali und der Eintracht in Nigeria, wo grausame terroristische
Attentate weiter Opfer fordern, besonders unter den Christen. Möge der Erlöser den
Flüchtlingen aus dem Osten der Demokratischen Republik Kongo Hilfe und Trost bringen.
Er möge Kenia Frieden schenken, wo blutige Attentate die Zivilbevölkerung und die
Gotteshäuser getroffen haben.
Das Jesuskind segne all die vielen Gläubigen,
die in Lateinamerika sein Fest begehen. Es lasse ihre menschlichen und christlichen
Tugenden wachsen, biete denen, die gezwungen sind, ihre Familien und ihr Land zu verlassen,
Halt und stärke die Regierenden in ihrem Einsatz für die Entwicklung sowie im Kampf
gegen die Kriminalität.
Liebe Brüder und Schwestern! Liebe und Wahrheit, Gerechtigkeit
und Friede sind einander begegnet, haben in dem Menschen, der in Bethlehem aus Maria
geboren wurde, Fleisch angenommen. Jener Mensch ist der Sohn Gottes – Gott, der in
der Geschichte erschienen ist. Seine Geburt ist ein Spross neuen Lebens für die gesamte
Menschheit. Möge jedes Land eine gute „Erde“ werden, welche die Liebe, die Wahrheit,
die Gerechtigkeit und den Frieden aufnimmt und zum Sprießen bringt.