In Ägypten sind die
stimmberechtigten Bürger dazu aufgerufen, am kommenden Samstag in einem Referendum
über den umstrittenen Verfassungsentwurf abzustimmen. Im Ausland ist der Urnengang
bereits seit diesem Mittwoch möglich. Die Abstimmung in Ägypten wird auf die zwei
kommenden Samstage verteilt stattfinden, da sich nicht genügend Richter bereit erklärt
hatten, die Stimmabgabe zu überwachen. Unterdessen wächst in der Bevölkerung die Sorge
vor einer gewaltsamen Eskalation bei den Demonstrationen, die in diesen Tagen vor
allem Kairo in Atem halten. Maria Haarmann ist Nahostreferentin des katholischen Hilfswerks
Misereor und erst vor wenigen Tagen aus Ägypten zurück gekehrt:
„Daneben
beschäftigt die Menschen natürlich die Angst vor der wirtschaftlichen Zukunft. Die
Chancenlosigkeit wird als sehr bedrückend empfunden. Ich wurde von sehr vielen Menschen
darauf angesprochen, und zwar Christen wie Muslimen, wie man denn auswandern könnte,
welche Chancen es in Deutschland gäbe, gerade gut ausgebildete Menschen, junge Menschen,
die gesagt haben, wir wollen hier weg, bevor das zum Pulverfass wird.“
Die
Oppositionsparteien scheinen jedenfalls nicht in der Lage, geschlossen aufzutreten
und eine Linie vorzugeben, wie ihre Anhänger sich bei der Abstimmung verhalten sollten.
Die beiden Alternativen wären aus Sicht der Opposition entweder ein Boykott oder eine
„Nein“-Stimme:
„Die Uneinigkeit und Zersplitterung der Opposition war von
Anfang an ein Problem. Wenn es einen einheitlichen Kandidaten gegeben hätte, eine
einheitliche Front, wäre es natürlich viel leichter gewesen, der gut organisierten
und einigen Muslimbruderschaft Paroli zu bieten. Was den Boykott oder die Neinstimme
angeht, auch da gibt es noch keine Einigkeit innerhalb der Opposition - aber es natürlich
sehr gefährlich, zu boykottieren, denn die Verfassung gilt als angenommen, wenn eine
Mehrzahl der Stimmen für die Verfassung abgegeben wird, nicht eine Mehrzahl der Stimmberechtigten
überhaupt. Es erscheint vernünftiger, mit Nein zu stimmen.“
Doch warum
ist es aus Sicht der Opposition nötig, den Verfassungsentwurf, der letztlich ohne
die Beteiligung wichtiger gesellschaftlicher Gruppen entstanden ist - unter ihnen
beispielsweise die christlichen Kirchen - und nun in aller Eile per Referendum ratifiziert
werden soll, zu stoppen? Die Verfassung, so Haarmann, sei in ihrem jetzigen Entwurf
zwar stärker, aber doch nicht übertrieben explizit, islamistisch geprägt als die Verfassung,
die unter Mubarak in Kraft war:
„Sie öffnet eher potentielle Einfallstore
für islamistische Interpretationen. Das ist das Gefährliche daran, dass eben nicht
mehr ausdrücklich von der Diskriminierung gegenüber Frauen oder von der Religionsfreiheit
für alle die Rede ist. Dass insgesamt Diskriminierung missbilligt wird, aber nicht
mehr gesagt wird, gegenüber welchen Gruppen. Ich habe von christlicher Seite, darunter
auch von Bischöfen, immer wieder gehört, solange es um die Prinzipien der Scharia
gehe, sei dagegen nichts einzuwenden, dass es aber höchst gefährlich wäre, wenn es
um die Bestimmungen der Scharia gehe. Und die jetzige Verfassung öffnet in der Tat
unter Umständen die Tore für solche Interpretationen und Auslegungen.“
Die
Beziehungen zwischen Armee und Regierung scheinen sich jedenfalls, nach dem Tiefpunkt
im August, als Mursi die Befugnisse der Armee beschnitten hatte, wieder stark gebessert
zu haben: Die Armee darf laut Dekret nun auch Zivilisten festnehmen, und beim Schutz
des Präsidentenpalastes hatte sie in diesen Tagen eine entscheidende Rolle gespielt.
„Mir
gegenüber haben viele Gesprächspartner aus der Opposition die Überzeugung geäußert,
dass es stillschweigende Übereinkünfte zwischen der Armee und den Muslimbrüdern geben
könnte. Es könnte auch von den Herkunftsmilieus, also dem islamisch geprägten Kleinbürgertum
her, Verflechtungen geben. Menschenrechtler haben mir auch gesagt, dass die Armee
weitgehend geschont werde, wenn es um die Aufarbeitung von Gewalt gegenüber Protestierenden
während der Revolutionstage im Januar und Februar letzten Jahres gehe. Ein Anwalt
sagte mir, dass auf die entsprechende Untersuchungskommission Druck ausgeübt würde,
vor allem die von der Polizei ausgehende Gewalt, also die von den Vertretern des alten
Regimes ausgehende Gewalt anzuprangern, und nicht so sehr die Übergriffe der Armee,
die sehr wohl auch stattgefunden haben. Die Armee wird also geschont.“
Zumindest
die quasi uneingeschränkten Machtbefugnisse, die Mursi sich per Dekret am 22. November
genehmigt hatte, hatte er als Reaktion auf die Proteste wieder abgelegt. Konkret bedeute
das allerdings zunächst nur:
„dass er sich als Präsident nicht mehr über
die richterliche Gewalt stellt, also die Gewaltenteilung wieder anerkennt und die
Judikative wieder in ihre Rechte einsetzt. Das könnte, rein theoretisch allerdings,
bedeuten, dass er den Richtern das Recht zugesteht, die bisherige verfassungsgebende
Versammlung wieder aufzulösen. Damit würde aber auch der Verfassungsentwurf hinfällig.“
Damit
ist allerdings wohl, angesichts der an diesem Samstag nach wie vor vorgesehenen Abstimmung
über die Verfassung, nicht mehr zu rechnen.