Clemens J. Setz: Indigo.
Ein Roman. Ein Buchtipp von Stefan v. Kempis Selten habe ich in den letzten Jahren
einen Roman gelesen, der so verstörend ist und so intensiv. Er handelt von Kindern
mit einer seltsamen Krankheit – manche nennen sie „Indigo“-Kinder: Wer in ihre Nähe
kommt, fühlt schon nach kürzester Zeit schweres Unwohlsein, ringt nach Atem, verliert
das Bewußtsein. Diese Kinder sind tödlich. In einem entlegenen Internat in der Steiermark
werden sie unterrichtet, manchmal wird ein Kind mit dem Auto abgeholt und verschwindet
für immer, der Mathe-Lehrer wird darauf aufmerksam, beginnt zu recherchieren. Ein
Roman, der mit sparsamen Mitteln und pseudo-realistischen Szenarien großes Unbehagen
hervorruft und den Leser nicht mehr loslässt. Wir bewegen uns hier in einer alptraumhaften
Welt ohne Gott und, in gewisser Weise, ohne Menschen, oder mit anderen Menschen, als
wir sie heute kennen. Eine beklemmende Parabel, eines der wichtigsten Bücher dieser
Jahre.
„Draußen hatte sich das Gewitter verzogen, die Blitze hatten sich
in ein fernes Wetterleuchten verwandelt. Ein eitler Horizont, der sich immer und immer
wieder fotografieren ließ.“ Geglückte Sprachbilder wie dieses stellen in „Indigo“
eine beispiellos dichte Atmosphäre her. Setz äußert zum Beispiel einmal „die starke
Vermutung, dass die Männer von der Müllabfuhr den Bewohnern des Hauses durch die Art,
wie sie die Mülltonnen am Morgen nach dem Entleeren vor dem Haustor abstellten, etwas
mitteilen wollten. Eine verschlüsselte Botschaft über den Zustand der Welt.“ Oder
er beschreibt „das gleichzeitige Flattern aller Roll-Buchstaben auf der sich alle
paar Minuten von selbst aktualisierenden Anzeigetafel am Frankfurter Flughafen: wie
ein plötzlicher Windstoß in den Blättern eines Baumes.“ Er schildert den Baum,
der sich unendlich langsam, aber liebevoll allem entgegenstreckt, was in seine Nähe
kommt, und deswegen beim Wachsen immer wieder die Richtung ändert, bis er völlig verknotet
ist. Er führt die seltsamen Geräusche in den Heizungsrohren auf kleine Lebewesen zurück,
die sich in den Rohren vermehren.
Wer dieses Buch liest, tritt in eine andere
Welt ein. Es geht ihm nach einer Weile wie den Männern, die nur mal gerade rausgehen
zum Zigarettenautomaten – und dann für immer verschwinden. Auch hier findet der Autor
zu einem hypnotischen Bild: „Vielleicht ist es ein uraltes Geheimnis der Zigarettenautomaten
selbst, ein geheimer Code, den man durch Drücken verschiedener Markenknöpfe eingibt,
und dann öffnet sich die Box mit einem zischenden hydraulischen Geräusch und gibt
einen Gang in die Unterwelt frei. Von allen Städten der Erde, durch die Öffnungen
an Straßenecken und in Wänden öffentlicher Toiletten, steigen die Männer hinab in
die Stollen, begrüßen einander mit einem knappen Nicken, … und sie folgen den leuchtenden
Hinweisschildern bis zur Großen Unterirdischen Transitstation, dem geheimen Umschlagplatz
all jener, die aus ihrem Leben aussteigen wollen. Unter den großen Neonschildern,
auf denen die Logos der Zigarettenfirmen leuchten, warten sie auf riesigen Plattformen,
jeder allein, jeder in sich gekehrt, auf ihre weiteren Verbindungen.“
Was
hat es nun auf sich mit den „Indigo“-Kindern, die ungewollt Krankheit und Grauen um
sich herum schaffen, ein Grauen, das bei Setz bis in die Sprache schleicht? Der Autor
bietet uns keine Auflösung, die Verstörung bleibt. Doch kurz vor Schluß des Buches,
auf Seite 456 von insgesamt 477 Seiten, ist einmal beiläufig vom Thema Kindesmissbrauch
die Rede. „Eine Artikelserie im Guardian erschien, in der Eltern interviewt wurden,
die wegen Kindesmissbrauch verurteilt worden waren. Und viele von ihnen nannten plötzlich
Gründe für ihr unentschuldbares Verhalten, die an I-Symptome denken ließen.“ Nach
den Kindesmissbrauchs-Skandalen der letzten Jahre, die ja auch katholische Einrichtungen
betrafen, wird man da natürlich hellhörig. „Indigo“ läßt sich durchaus als Parabel
auf Kindesmissbrauch hin lesen, aber das ist nur eine von vielen möglichen Interpretationen:
Dieses Werk ist nicht einspurig, es schillert, fest steht nur die schwere, nicht reparable,
innere wie äußere Beschädigung dieser Kinder.
Viele Formulierungen und Bilder
dieses Buches wollen mir nicht mehr aus dem Kopf. Die kurze Erzählung von Roberts
Onkel, zum Beispiel. „Roberts Onkel war seit frühester Jugend einem eigenartigen
Zählzwang unterworfen gewesen, der in späteren Jahren zwar an Vielseitigkeit ab-,
dafür an Intensität zunahm. Er hörte auf, Lampen, Badezimmerfliesen, Sommersprossen
in Gesichtern oder die Fenster weit entfernter Gebäude zu zählen, und war jetzt nur
noch von einer einzigen Zahl besessen, zu der er alle paar Stunden 1 dazuzählen musste.
Sie war inzwischen sechsstellig, und wenn man ihn nach ihrem Wert fragte, nannte er
ihn, wie aus der Pistole geschossen, zählte aber dann sofort 1 dazu und wiederholte,
etwas leiser, den neuen Wert. Ein vernünftiges Gespräch war mit ihm nicht zu führen.
Ihn interessierte ausschließlich, was mit dieser Zahl in Zusammenhang stand, etwa
die Frage, ob sie nicht vielleicht gerade wieder eine Primzahl war oder eine andere
interessante arithmetische Eigenschaft aufwies – wie in jenem denkwürdigen Augenblick,
als sie genau 111111 gewesen war; Onkel Johann war angeblich aus seinem Zimmer gerannt
und hatte sich im Gang vor ein offenes Fenster gestellt und dankbar die frische, neue
Welt und ihr herrliches Licht begrüßt, mit einer leidenschaftlichen Kusshand und einem
etwas schief geratenen Kreuzzeichen.“
Dieses von einem geistig Verwirrten
geschlagene Kreuzzeichen ist, vordergründig gesehen, der einzige explizit religiöse
Moment dieses Buches. Aber untergründig handelt „Indigo“ durchgängig von nichts anderem
als der großen Frage des achten Psalms: „Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst,
/ des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“
Der Roman ist im Suhrkamp
Verlag erschienen und kostet etwa 23 Euro. (rv 08.12.2012 sk)