2012-12-08 10:49:20

Unser Buchtipp: Indigo


RealAudioMP3 Clemens J. Setz: Indigo. Ein Roman. Ein Buchtipp von Stefan v. Kempis
Selten habe ich in den letzten Jahren einen Roman gelesen, der so verstörend ist und so intensiv. Er handelt von Kindern mit einer seltsamen Krankheit – manche nennen sie „Indigo“-Kinder: Wer in ihre Nähe kommt, fühlt schon nach kürzester Zeit schweres Unwohlsein, ringt nach Atem, verliert das Bewußtsein. Diese Kinder sind tödlich. In einem entlegenen Internat in der Steiermark werden sie unterrichtet, manchmal wird ein Kind mit dem Auto abgeholt und verschwindet für immer, der Mathe-Lehrer wird darauf aufmerksam, beginnt zu recherchieren. Ein Roman, der mit sparsamen Mitteln und pseudo-realistischen Szenarien großes Unbehagen hervorruft und den Leser nicht mehr loslässt. Wir bewegen uns hier in einer alptraumhaften Welt ohne Gott und, in gewisser Weise, ohne Menschen, oder mit anderen Menschen, als wir sie heute kennen. Eine beklemmende Parabel, eines der wichtigsten Bücher dieser Jahre.

„Draußen hatte sich das Gewitter verzogen, die Blitze hatten sich in ein fernes Wetterleuchten verwandelt. Ein eitler Horizont, der sich immer und immer wieder fotografieren ließ.“ Geglückte Sprachbilder wie dieses stellen in „Indigo“ eine beispiellos dichte Atmosphäre her. Setz äußert zum Beispiel einmal „die starke Vermutung, dass die Männer von der Müllabfuhr den Bewohnern des Hauses durch die Art, wie sie die Mülltonnen am Morgen nach dem Entleeren vor dem Haustor abstellten, etwas mitteilen wollten. Eine verschlüsselte Botschaft über den Zustand der Welt.“ Oder er beschreibt „das gleichzeitige Flattern aller Roll-Buchstaben auf der sich alle paar Minuten von selbst aktualisierenden Anzeigetafel am Frankfurter Flughafen: wie ein plötzlicher Windstoß in den Blättern eines Baumes.“ Er schildert den Baum, der sich unendlich langsam, aber liebevoll allem entgegenstreckt, was in seine Nähe kommt, und deswegen beim Wachsen immer wieder die Richtung ändert, bis er völlig verknotet ist. Er führt die seltsamen Geräusche in den Heizungsrohren auf kleine Lebewesen zurück, die sich in den Rohren vermehren.

Wer dieses Buch liest, tritt in eine andere Welt ein. Es geht ihm nach einer Weile wie den Männern, die nur mal gerade rausgehen zum Zigarettenautomaten – und dann für immer verschwinden. Auch hier findet der Autor zu einem hypnotischen Bild: „Vielleicht ist es ein uraltes Geheimnis der Zigarettenautomaten selbst, ein geheimer Code, den man durch Drücken verschiedener Markenknöpfe eingibt, und dann öffnet sich die Box mit einem zischenden hydraulischen Geräusch und gibt einen Gang in die Unterwelt frei. Von allen Städten der Erde, durch die Öffnungen an Straßenecken und in Wänden öffentlicher Toiletten, steigen die Männer hinab in die Stollen, begrüßen einander mit einem knappen Nicken, … und sie folgen den leuchtenden Hinweisschildern bis zur Großen Unterirdischen Transitstation, dem geheimen Umschlagplatz all jener, die aus ihrem Leben aussteigen wollen. Unter den großen Neonschildern, auf denen die Logos der Zigarettenfirmen leuchten, warten sie auf riesigen Plattformen, jeder allein, jeder in sich gekehrt, auf ihre weiteren Verbindungen.“

Was hat es nun auf sich mit den „Indigo“-Kindern, die ungewollt Krankheit und Grauen um sich herum schaffen, ein Grauen, das bei Setz bis in die Sprache schleicht? Der Autor bietet uns keine Auflösung, die Verstörung bleibt. Doch kurz vor Schluß des Buches, auf Seite 456 von insgesamt 477 Seiten, ist einmal beiläufig vom Thema Kindesmissbrauch die Rede. „Eine Artikelserie im Guardian erschien, in der Eltern interviewt wurden, die wegen Kindesmissbrauch verurteilt worden waren. Und viele von ihnen nannten plötzlich Gründe für ihr unentschuldbares Verhalten, die an I-Symptome denken ließen.“ Nach den Kindesmissbrauchs-Skandalen der letzten Jahre, die ja auch katholische Einrichtungen betrafen, wird man da natürlich hellhörig. „Indigo“ läßt sich durchaus als Parabel auf Kindesmissbrauch hin lesen, aber das ist nur eine von vielen möglichen Interpretationen: Dieses Werk ist nicht einspurig, es schillert, fest steht nur die schwere, nicht reparable, innere wie äußere Beschädigung dieser Kinder.

Viele Formulierungen und Bilder dieses Buches wollen mir nicht mehr aus dem Kopf. Die kurze Erzählung von Roberts Onkel, zum Beispiel. „Roberts Onkel war seit frühester Jugend einem eigenartigen Zählzwang unterworfen gewesen, der in späteren Jahren zwar an Vielseitigkeit ab-, dafür an Intensität zunahm. Er hörte auf, Lampen, Badezimmerfliesen, Sommersprossen in Gesichtern oder die Fenster weit entfernter Gebäude zu zählen, und war jetzt nur noch von einer einzigen Zahl besessen, zu der er alle paar Stunden 1 dazuzählen musste. Sie war inzwischen sechsstellig, und wenn man ihn nach ihrem Wert fragte, nannte er ihn, wie aus der Pistole geschossen, zählte aber dann sofort 1 dazu und wiederholte, etwas leiser, den neuen Wert. Ein vernünftiges Gespräch war mit ihm nicht zu führen. Ihn interessierte ausschließlich, was mit dieser Zahl in Zusammenhang stand, etwa die Frage, ob sie nicht vielleicht gerade wieder eine Primzahl war oder eine andere interessante arithmetische Eigenschaft aufwies – wie in jenem denkwürdigen Augenblick, als sie genau 111111 gewesen war; Onkel Johann war angeblich aus seinem Zimmer gerannt und hatte sich im Gang vor ein offenes Fenster gestellt und dankbar die frische, neue Welt und ihr herrliches Licht begrüßt, mit einer leidenschaftlichen Kusshand und einem etwas schief geratenen Kreuzzeichen.“

Dieses von einem geistig Verwirrten geschlagene Kreuzzeichen ist, vordergründig gesehen, der einzige explizit religiöse Moment dieses Buches. Aber untergründig handelt „Indigo“ durchgängig von nichts anderem als der großen Frage des achten Psalms: „Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, / des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“

Der Roman ist im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet etwa 23 Euro.
(rv 08.12.2012 sk)








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