Die schwere Staatskrise
in Ägypten geht weiter. Mit einer Marathon-Abstimmung, die insgesamt 16 Stunden dauerte,
hat die ägyptische Verfassungskommission an diesem Freitagmorgen den Entwurf einer
Verfassung verabschiedet. Damit wollte das von Islamisten dominierte Gremium, aus
dem die linken, liberalen und christlichen Mitglieder im Protest ausgeschieden sind,
seiner Auflösung durch das Oberste Gericht zuvorkommen. Die hastig vorgelegte Verfassung
soll nun nach der Vorstellung der Muslimbrüder binnen dreißig Tagen zur Volksabstimmung
vorgelegt werden. Trotz aller Proteste will der aus den Reihen der Muslimbrüder stammende
Präsident Mohammed Mursi die Volksabstimmung „bald“ abhalten.
„Das macht
den Christen das Leben schwerer“, sagt der deutsche Weltkirchen-Erzbischof Ludwig
Schick im Kölner Domradio. „Die Scharia soll zum Obergesetz für alle anderen Gesetze
werden, so dass alle Gesetze nach der Scharia ausgelegt werden müssten! Aber noch
ist nicht das letzte Wort gesprochen.“
Bei der Live-TV-Übertragung von
den Abstimmungen der Kommission war unter den 85 Mitgliedern kein einziger Christ
zu sehen – dafür viele Bärte und nur vier Frauen, allesamt bekannte Islamistinnen.
Eigentlich wollte die Kommission sich noch zwei weitere Monate Zeit nehmen, um eine
Verfassung zu erarbeiten. Doch am Sonntag sollte das Oberste Gericht, das als Bollwerk
des früheren Mubarak-Regimes gilt, über eine mögliche Auflösung der Verfassungskommission
entscheiden. Auch an diesem Freitag wollen Oppositionelle wieder auf dem Kairoer Tahrir-Platz
gegen Mursi und die Muslimbrüder demonstrieren; die Muslimbrüder selbst planen ebenfalls
eine Demonstration, aber in weiter Entfernung vom Tahrir-Platz. Erzbischof Schick:
„Wir
sollten durch unser Gebet und unsere Solidarität das Recht der Christen, in Ägypten
zu leben, betonen! Diese zehn Prozent der ägyptischen Bevölkerung müssen dort ihre
Rechte wahrnehmen können und als Christen ihre Religion ausüben können.“
Auch
der koptisch-katholische Bischof von Assiut, Kyrillos William, kritisierte den Verfassungsentwurf.
„Diese Verfassung vertritt nicht alle Ägypter und nicht die Ideen des arabischen Frühlings“,
sagte der Administrator des koptisch-katholischen Patriarchats von Alexandrien. Doch
die Christen ließen sich von Rechtswidrigkeiten und Diskriminierungen nicht entmutigen.
„Wir werden auch nicht nachlassen, uns für Veränderungen einzusetzen“, betonte er.
Im Vergleich zum Mubarak-Regime könnten sich die Christen und oppositionelle Muslime
wenigstens öffentlich äußern. Zudem habe Mursi in seiner noch kurzen Amtszeit schon
viermal Vertreter aller Christen getroffen. Unter Hosni Mubarak dagegen habe es niemals
solche Gespräche gegeben. Dennoch seien viele Christen besorgt, „und zwar zum Teil
berechtigt“. Viele hätten bereits ihr Heimatland verlassen. Leider höre man derzeit
anstatt der anfänglichen Parole „Freiheit, Gerechtigkeit und Brot“ die Stimmen radikaler
Muslime, die „Freiheit, Scharia und Brot“ riefen.
„Wir beten für die Einigkeit
aller Ägypter“, sagte der neue koptisch-orthodoxe Patriarch Tawadros II. am Donnerstag
in Kairo im Gespräch mit Radio Vatikan. „Aber die chaotischen Ereignisse im Land beeinträchtigen
diese Einheit sehr. Die Kirche kann nur beten und Liebe zeigen; wir versuchen, in
jeder Lage und allen Autoritäten des Landes gegenüber mit größtmöglicher Weisheit
aufzutreten.“ Ob er glaube, dass die Kopten jetzt möglich zahlreich auf dem Tahrir-Platz
demonstrieren sollten? Die Antwort des Patriarchen ist kurz: „Alles ist okay, solange
es nicht zu Gewalt kommt. Das ist sehr wichtig.“ Immerhin glaube er nicht an einen
bevorstehenden Bürgerkrieg: „Uns Ägypter alle vereint der Nil, von Norden nach Süden“,
sagt Tawadros.
Hintergrund In dem Verfassungsentwurf werden
die Prinzipien der Scharia als wichtigste Quellen der Gesetzgebung genannt. Zudem
wird der Islam zur Staatsreligion gemacht. Wegen dieser islamistischen Ausrichtung
hatten Liberale und Christen ihre Mitarbeit an der Verfassung eingestellt. Mursi verteidigte
unterdessen erneut die umstrittenen Ausweitung seiner Machtbefugnisse. Er habe Gefahren
von Ägypten abwehren müssen, sagte er in einer Fernsehansprache.