D: Streiks in kirchlichen Einrichtungen „unter bestimmten Umständen“ möglich
Streiks in kirchlichen
Einrichtungen sind künftig unter bestimmten Umständen zulässig. Das hat das Bundesarbeitsgericht
in Erfurt am Dienstagabend entschieden. Es ging um zwei Klagen evangelischer Arbeitgeber,
die auf einem generellen Streikverbot in kirchlichen Einrichtungen bestanden. Dieses
wurde vom Gericht so zwar nicht bestätigt, doch ein Streik in kirchlichen Einrichtungen
ist nach dem Gerichtsurteil auch nicht uneingeschränkt zulässig. Thomas Schwendle
von der arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas erläutert im Domradio-Interview
die Voraussetzungen, unter denen ein Streik möglich ist:
„Zunächst gibt
es keinen Streik in einem stringent dargestellten und umgesetzten „Dritten Weg“. Den
braucht es auch nicht, weil man im Dritten Weg zu ausgewogenen Entscheidungen kommt.
Wenn im dritten Weg „geschlampert“ wird, dann darf man streiken. Im konkreten Einzelfall
ging es um diakonische Einrichtungen, die gar nicht sauber am diakonischen Werk angebunden
waren. Die dürfen selbstverständlich bestreikt werden.“
Der „Dritte Weg“
bei Einrichtungen der katholischen Kirche sieht vor, dass Mitarbeiter Mitglieder in
die arbeitsrechtliche Kommission wählen, die paritätisch mit Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern
besetzt ist. In diesem Gremium werden die Tarifverträge ausgehandelt. Wenn allerdings
diese Verhandlungen stringent umgesetzt werden, dann kann sich die Kirche auf ihr
Selbstbestimmungsrecht berufen. Schwendle:
„Ein wesentlich neuer Satz des
Gerichtes ist, dass die Gewerkschaften im System des „Dritten Weges“ zu beteiligen
sind. Sie also einfach außen vor zu lassen, das geht nicht. Ich gehe davon aus, dass
sich die Parteien in Zukunft, sobald der Pulverdampf sich verzogen hat, über Kooperationen
verständigen sollten. Eventuell müssen auch die Ordnungen neu gestrickt werden, so
dass die Gewerkschaften auch strukturell an den Tisch kommen müssen. Aber das muss
man nach einem genauen Studium des Gerichtsurteils sehen.“
Die beiden großen
Kirchen haben das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum kirchlichen Streikrecht in
einer ersten Reaktion begrüßt. Durch die Entscheidung werde das System der partnerschaftlichen
Tariffindung in paritätisch zusammengesetzten Kommissionen im Grundsatz bestätigt,
erklärte der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Jesuitenpater Hans Langendörfer,
am Dienstag in Bonn. Das Urteil stärke gleichzeitig das Selbstbestimmungsrecht der
Kirchen. „Gewerkschaften dürfen nicht zu einem Streik im kirchlichen Dienst aufrufen,
wenn bestimmte Vorgaben des Dritten Weges erfüllt sind“, erläuterte Langendörfer.
Der Dritte Weg des kircheneigenen Arbeitsrechts habe sich in den letzten 30 Jahren
bewährt. Er garantiere gute Ergebnisse in einem gerechten Verfahren und werde von
der überwältigenden Mehrheit der Dienstgeber und Dienstnehmer aus Überzeugung mitgetragen.
„Die katholische Kirche in Deutschland und ihre Caritas werden diesen Weg auch in
Zukunft fortsetzen.“ Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) betonte, das
Urteil stärke das Selbstbestimmungsrecht von Kirche und Diakonie. Auch ohne Streiks
seien in den vergangenen Jahrzehnten gute Tarifergebnisse erzielt worden. Der Präsident
des EKD-Kirchenamtes, Hans Ulrich Anke, verwahrte sich zugleich gegen Vorwürfe des
Lohndumpings. Auch die Caritas begrüßte das Urteil im Grundsatz. „Zwar hat das Bundesarbeitsgericht
entschieden, dass Gewerkschaften in das Verfahren des Dritten Weges organisatorisch
eingebunden sein sollten. Welche konkreten Konsequenzen dies künftig im kirchlichen
Arbeitsrecht haben wird, kann jedoch erst bewertet werden, wenn die schriftliche Urteilsbegründung
vorliegt“, erklärte Präsident Peter Neher.
Hintergrund Auch
Kirchenmitarbeiter dürfen nach einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts unter
bestimmten Bedingungen streiken. Voraussetzung sei, dass der kirchliche Sonderweg
mit dem Ziel eines einvernehmlichen Interessenausgleichs nicht zu eindeutigen Ergebnissen
geführt habe, urteilte das Gericht am Dienstag in Erfurt. Die Entscheidung betrifft
rund 1,3 Millionen Arbeitnehmer vor allem von Caritas und Diakonie. (1 AZR 179/11
und 1 AZR 611/11) Auf der Tagesordnung standen zwei Verfahren in diakonischen Einrichtungen
der evangelischen Kirche in Westfalen, Niedersachsen und Nordelbien. In beiden Fällen
hatten sich bereits die Landesarbeitsgerichte Hamm und Hamburg im vergangenen Jahr
gegen ein generelles Streikverbot ausgesprochen. Die höchsten deutschen Arbeitsrichter
gaben damit in Teilen der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und der Ärztegewerkschaft
Marburger Bund Recht, die zu Arbeitskämpfen in den Einrichtungen aufgerufen hatten.
Der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts bestätigte aber zugleich das grundgesetzlich
verankerte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen auch in arbeitsrechtlichen Fragen.
Die
SPD-Politiker Wolfgang Thierse und Kerstin Griese forderten, es müsse jetzt ein Weg
gefunden werden, der „das Streikrecht mit dem Dritten Weg des kirchlichen Arbeitsrecht
vereinbart, denn das Streikrecht ist ein Grundrecht.“ Die beiden SPD-Politiker sehen
deutlichen Reformbedarf im kirchlichen Arbeitsrecht. Outsourcing zum Senken von Löhnen
und dauerhafte Leiharbeit genügten dem kirchlichen Anspruch nicht. Die Kirchen müssten
sich für eine Beteiligung von Gewerkschaften in den arbeitsrechtlichen Kommissionen
öffnen. In der Verhandlung hatten sich die Rechtsvertreter der Kirchen auf deren Selbstbestimmungsrecht
berufen. Sie verteidigten den ,Dritten Weg´ der Kirchen und ihrer Einrichtungen. Mit
dem Leitbild der „Dienstgemeinschaft“ seien Streik und Aussperrung unvereinbar. Stattdessen
suchten Dienstgeber und Dienstnehmer in paritätisch besetzten Kommissionen nach einem
Interessenausgleich und schalteten notfalls Schlichter ein.
Die Vertreter
von ver.di und Marburger Bund bezeichneten das Streikrecht demgegenüber als unverzichtbaren
Bestandteil des grundgesetzlich festgeschriebenen Koalitionsrechts. Ohne Streikrecht
sei die Interessenvertretung von Arbeitnehmern nur „kollektives Betteln“. Experten
rechnen damit, dass das Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen noch das Bundesverfassungsgericht
oder den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg beschäftigen wird. Die
Gerichtspräsidentin wertete die Entscheidung deshalb als „Zwischenetappe von richtungsweisender
Bedeutung“. Bisher sind bei den beiden großen christlichen Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden
Diakonie und Caritas Streiks verboten. Dumpinglöhne und Leiharbeit im Sozialsektor
waren aber vor allem der Diakonie vorgeworfen worden. Die Kirchen mit ihren Wohlfahrtsverbänden
sind in Deutschland mit rund 1,3 Millionen Beschäftigten der zweitgrößte Arbeitgeber
nach dem Staat. Ver.di-Chef Frank Bsirske hatte den Kirchen im Vorfeld des Urteils
die Missachtung von Grundrechten und vordemokratisches Verhalten vorgeworfen. Die
Chefs von Caritas und Diakonie, Peter Neher und Johannes Stockmeier, verteidigten
den Dritten Weg als gute Alternative zur üblichen Aushandlung von Tarifen. Neher verwies
auch darauf, dass auch Beamte nicht streiken dürften; man könne also nicht von einem
Menschenrecht sprechen.