2012-11-01 09:23:23

Kardinal Lehmann zur neuen Kirchenlehrerin: „Die Arbeit fängt jetzt erst an“


RealAudioMP3 Mit der Erhebung der Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin fängt die Arbeit erst richtig an. Daran hat der ehemalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Mainzer Kardinal Karl Lehmann, im Interview mit Radio Vatikan erinnert. Vieles am umfassenden Werk der Hildegard von Bingen sei noch gar nicht erschlossen und bleibe bis heute rätselhaft, sagte der Kardinal am Rande einer Feierstunde anlässlich Hildegards Erhebung zur Kirchenlehrerin am 7. Oktober 2012. Zugleich trage die Heiligsprechung der Hildegard durch Benedikt XVI. – die ja eine der Voraussetzungen für ihre Erhebung zur Kirchenlehrerin war – auch zu einer Wandlung des Begriffes der Heiligkeit bei, so Lehmann, der im Fall der heiligen Hildegard von einer „Synthese aus Heiligkeit, Spiritualität, Theologie und Weltoffenheit“ spricht. Es sei „mutig“ vom Papst, dass er diese Schritte jetzt gegangen sei.

„Man muss zunächst einmal sehen, dass ihre Theologie natürlich auch dem Denkstil ihrer Zeit entspricht, das ist nicht nur die kühle Schlussfolgerung, sondern da spielen tiefe Bilder und Symbole eine sehr große Rolle, und es gibt immer wieder die Öffnung auch zu den anderen Wissensgebieten der Zeit. Es ist auf der einen Seite eine sehr verinnerlichte Theologie. Sie ist aber keineswegs weltflüchtig, sondern sie hat immer auch einen ganz konkreten Bezug zur lebendigen Schöpfung. Was mir besonders wichtig zu sein scheint, auch für unsere Zeit: der Mensch steht in einer unglaublichen Weise in der Mitte der Schöpfung. Trotzdem wird auch in der Einordnung in das Ganze die Gefahr gesehen, dass der Mensch diese Schöpfung auch missbraucht für seine eigenen Zwecke. Diese Ausgewogenheit ist glaube ich etwas, was für uns ganz wichtig ist und letztlich der Theologie irgendwo dann auch fehlt.“

Auch Papst Benedikt XVI. hat ja in seinen Meditationen zur Hildegard von Bingen den weiblichen Beitrag zur Theologie gewürdigt…

„Der Papst hat in seinen Meditationen über Hildegard von Bingen im September 2010 gesagt, dass es durchaus eine fraulich-weibliche Komponente in der Theologie gibt, die wir eigentlich heute wieder entdecken müssen, nicht nur in der feministischen Theologie, sondern auch in anderen Spielarten.“

Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil öffneten sich die Türen der theologischen Fakultäten auch für Frauen. Ist die Erhebung der Hildegard zur Kirchenlehrerin auch eine Botschaft an die Theologie?

„Ohne jede Frage! Da ist natürlich je nach Land viel geschehen. Als ich mein Theologiestudium anfing, 1956, da waren in einem großen Hörsaal von 300-400 Studierenden vielleicht zehn bis 15 Frauen. Heute haben wir in den allermeisten theologischen Fakultäten mindestens eine Professorin oder auch mehrere, die auch die Priester unterrichten – das ist doch ein ganz erheblicher Wandel in einer verhältnismäßig kurzen Zeit. Das wird auch weiter so gehen, davon bin ich fest überzeugt. Die Botschaft ist natürlich auch darin zu sehen: Dass man im Bereich der Kirche und der Theologie nicht einfach nur das, was die Zeit jetzt im Augenblick denkt, was sich etwa in verschiedenen Spielarten des Feminismus zu Worte meldet, sieht. Sondern dass man eben auch eine lange, verborgene, gar nicht mehr gekannte Tradition sieht. Hildegard wird von profanen Historikern als die klügste Frau des Mittelalters bezeichnet. Und da fällt uns dann manches auf, was wir vielleicht aus unserem Gedächtnis verbannt haben. Insofern glaube ich, ihre Zeit steht noch bevor! Allerdings ist das eine schwierige Aufgabe...“

Warum?

„Man kann die Dinge von damals nicht einfach nur glatt übernehmen und eins zu eins umsetzen. Man muss sie schon auch für die heutige Mentalität aufbereiten, ohne sie zu verfälschen. Das ist uns bisher noch nicht so richtig gelungen, das ist die Aufgabe der kommenden Zeit, damit wir uns jetzt nicht falsch ausruhen nach der Erhebung zur Kirchenlehrerin. Jetzt fängt die eigentliche Arbeit erst an!“

Der Papst hat mit der Heiligsprechung der Hildegard und ihrer Erhebung zur Kirchenlehrerin eine „mutige“ Entscheidung getroffen, sagten Sie in Ihrem Vortrag – inwiefern eine „mutige“ Entscheidung?

„Es gab ja schon vor 30 Jahren eine starke Tendenz, die heilige Hildegard zur Kirchenlehrerin zu erheben. Als ich Vorsitzender der Bischofskonferenz wurde, habe ich dieses Erbe eigentlich übernommen. Aber ich musste auch bald erkennen, dass es eine solche Überwucherung mit sekundären Themen gab und auch mit problematischen Erwartungen: die Esoterik, die Hildegard-Medizin, auch die Farbe Grün und vieles andere... Ich musste also sehen: Wir haben nicht genügend eigene Standfestigkeit, um die zentralen Themen in den Vordergrund zu stellen. So ist dieser Versuch damals, sie zur Kirchenlehrerin zu erheben, auch deshalb geplatzt, weil ich erkennen musste: In der Kirche gelten Spielregeln der Erhebung zur Kirchenlehrerin, die eine formelle Heiligsprechung voraussetzen, und das war bei ihr nicht der Fall. Auf der anderen Seite musste ich auch als Bischof von Mainz mit aller Klarheit sagen: Ich kann den Menschen, die die Hildegard als Heilige verehren, heute nicht einfach zumuten, dass sie erst heiliggesprochen werden muss.“

Ein Dilemma…

„Und dann waren aber auch gerade hier in Rom Leute, die meinten, da müsse eben ein formeller Heiligsprechungsprozess durchgeführt werden wie in jedem anderen Fall. Und da hat, glaube ich, der Papst eine weise Entscheidung getroffen mit dem Dekret vom 10. Mai diesen Jahres, in dem er gesagt hat: Die heilige Hildegard ist faktisch heilig, ohne Prozess, ohne alles, und das gilt für die ganze Weltkirche. Dadurch war das Tor offen, um dann drei Wochen später, am 27. Mai, zu sagen: Jetzt wird sie auch Kirchenlehrerin am 7. Oktober. Und das war ein kluger Schachzug.“

Was für ein neues Gesicht hat die Galerie der Heiligen mit Hildegard bekommen?

„Sie ist nicht so ganz einfach... Ich glaube, man muss ehrlich sein und sagen: Vieles an ihr und von ihr ist nicht ohne Weiteres in die Kategorie einer Volksheiligen einzuordnen – dafür ist es zu differenziert und setzt zu viel voraus. Es gibt auch die Gefahr, dass man dann sekundäre Aspekte zu sehr in die Mitte rückt. Aber ich glaube, dass sie mit den anderen Frauen, die Kirchenlehrerinnen geworden sind, mithalten kann. Und es ist ja interessant, dass gerade ein Fach wie zum Beispiel die Philosophie, die vor Jahrzehnten überhaupt keine Notiz nahm von einer heiligen Hildegard von Bingen, ihr jetzt in großen zusammenfassenden Lehrbüchern ein eigenes, kleines Kapitel widmet, das wäre nicht denkbar gewesen vor 20, 30 Jahren!“

Was bedeutet das?

„Dass sich der Begriff der Heiligen mit ihr und mit solchen Frauen wandelt. Da darf man nicht nur, wie soll ich sagen, auf eine fromme Weltschwester schauen, sondern auch darauf, dass Frauen damals – die natürlich zum Teil aus adligen Familien kamen – einen Zugang zur Bildung ihrer Zeit hatten, von dem wir eigentlich erst seit relativ kurzer Zeit etwas wissen. Und dass damit auch eine neue Gestalt einer Synthese von Heiligkeit, Spiritualität, Theologie und Weltoffenheit möglich ist. Und das eben aufgrund einer unglaublich tiefen und so reich begabten Weiblichkeit, Fraulichkeit.“

Wird Hildegard von Bingen auch noch das nächste Jahrhundert beschäftigen? In Ihrem Vortrag haben sie ja angesprochen, dass Hildegard bis heute in vielen Punkten rätselhaft bleibt…

„Ja, gerade deshalb ist da noch was drin! Weil das reizt natürlich, besser zu verstehen – wir haben ja dank der immensen Arbeit der letzten Jahrzehnte eine fantastische Situation, wir haben kritisch editierte Texte. Auch in diesem Moment machen die Schwestern in Eibingen eine fantastische, erschwingliche, achtbändige Studienausgabe der wichtigsten Texte der Hildegard. Es gibt auch eine große Verbreiterung der Forschung zu Hildegard, auch in andere Wissenschaften hinein, da wird man noch manches neu entdecken. Ich bin überzeugt davon, dass der Hildegard-Kongress im Februar-März 2013 noch Einiges aufzeigen wird. Es ist noch viel historische Aufarbeitung nötig. Gott sei Dank gibt es Leute, die sich darum kümmern, besonders Frauen nicht nur innerhalb der Orden, sondern auch an Universitäten in Harvard, in den USA usw. Und da glaube ich, dass das Interesse auch irgendwo stärker die systematische Theologie, die Dogmatik, die Spiritualität erfasst und dass man dann das, was historisch erarbeitet worden ist, auch fruchtbar macht über das hinaus, was uns jetzt unmittelbar einfällt.“

Die Fragen stellte Anne Preckel.

(rv 07.10.2012 pr)








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