Kardinal Lehmann zur neuen Kirchenlehrerin: „Die Arbeit fängt jetzt erst an“
Mit der Erhebung der
Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin fängt die Arbeit erst richtig an. Daran hat
der ehemalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Mainzer Kardinal Karl
Lehmann, im Interview mit Radio Vatikan erinnert. Vieles am umfassenden Werk der Hildegard
von Bingen sei noch gar nicht erschlossen und bleibe bis heute rätselhaft, sagte der
Kardinal am Rande einer Feierstunde anlässlich Hildegards Erhebung zur Kirchenlehrerin
am 7. Oktober 2012. Zugleich trage die Heiligsprechung der Hildegard durch Benedikt
XVI. – die ja eine der Voraussetzungen für ihre Erhebung zur Kirchenlehrerin war –
auch zu einer Wandlung des Begriffes der Heiligkeit bei, so Lehmann, der im Fall der
heiligen Hildegard von einer „Synthese aus Heiligkeit, Spiritualität, Theologie und
Weltoffenheit“ spricht. Es sei „mutig“ vom Papst, dass er diese Schritte jetzt gegangen
sei.
„Man muss zunächst einmal sehen, dass ihre Theologie natürlich auch
dem Denkstil ihrer Zeit entspricht, das ist nicht nur die kühle Schlussfolgerung,
sondern da spielen tiefe Bilder und Symbole eine sehr große Rolle, und es gibt immer
wieder die Öffnung auch zu den anderen Wissensgebieten der Zeit. Es ist auf der einen
Seite eine sehr verinnerlichte Theologie. Sie ist aber keineswegs weltflüchtig, sondern
sie hat immer auch einen ganz konkreten Bezug zur lebendigen Schöpfung. Was mir besonders
wichtig zu sein scheint, auch für unsere Zeit: der Mensch steht in einer unglaublichen
Weise in der Mitte der Schöpfung. Trotzdem wird auch in der Einordnung in das Ganze
die Gefahr gesehen, dass der Mensch diese Schöpfung auch missbraucht für seine eigenen
Zwecke. Diese Ausgewogenheit ist glaube ich etwas, was für uns ganz wichtig ist und
letztlich der Theologie irgendwo dann auch fehlt.“
Auch Papst Benedikt
XVI. hat ja in seinen Meditationen zur Hildegard von Bingen den weiblichen Beitrag
zur Theologie gewürdigt…
„Der Papst hat in seinen Meditationen über Hildegard
von Bingen im September 2010 gesagt, dass es durchaus eine fraulich-weibliche Komponente
in der Theologie gibt, die wir eigentlich heute wieder entdecken müssen, nicht nur
in der feministischen Theologie, sondern auch in anderen Spielarten.“
Nach
dem Zweiten Vatikanischen Konzil öffneten sich die Türen der theologischen Fakultäten
auch für Frauen. Ist die Erhebung der Hildegard zur Kirchenlehrerin auch eine Botschaft
an die Theologie?
„Ohne jede Frage! Da ist natürlich je nach Land viel
geschehen. Als ich mein Theologiestudium anfing, 1956, da waren in einem großen Hörsaal
von 300-400 Studierenden vielleicht zehn bis 15 Frauen. Heute haben wir in den allermeisten
theologischen Fakultäten mindestens eine Professorin oder auch mehrere, die auch die
Priester unterrichten – das ist doch ein ganz erheblicher Wandel in einer verhältnismäßig
kurzen Zeit. Das wird auch weiter so gehen, davon bin ich fest überzeugt. Die Botschaft
ist natürlich auch darin zu sehen: Dass man im Bereich der Kirche und der Theologie
nicht einfach nur das, was die Zeit jetzt im Augenblick denkt, was sich etwa in verschiedenen
Spielarten des Feminismus zu Worte meldet, sieht. Sondern dass man eben auch eine
lange, verborgene, gar nicht mehr gekannte Tradition sieht. Hildegard wird von profanen
Historikern als die klügste Frau des Mittelalters bezeichnet. Und da fällt uns dann
manches auf, was wir vielleicht aus unserem Gedächtnis verbannt haben. Insofern glaube
ich, ihre Zeit steht noch bevor! Allerdings ist das eine schwierige Aufgabe...“
Warum?
„Man
kann die Dinge von damals nicht einfach nur glatt übernehmen und eins zu eins umsetzen.
Man muss sie schon auch für die heutige Mentalität aufbereiten, ohne sie zu verfälschen.
Das ist uns bisher noch nicht so richtig gelungen, das ist die Aufgabe der kommenden
Zeit, damit wir uns jetzt nicht falsch ausruhen nach der Erhebung zur Kirchenlehrerin.
Jetzt fängt die eigentliche Arbeit erst an!“
Der Papst hat mit der Heiligsprechung
der Hildegard und ihrer Erhebung zur Kirchenlehrerin eine „mutige“ Entscheidung getroffen,
sagten Sie in Ihrem Vortrag – inwiefern eine „mutige“ Entscheidung?
„Es
gab ja schon vor 30 Jahren eine starke Tendenz, die heilige Hildegard zur Kirchenlehrerin
zu erheben. Als ich Vorsitzender der Bischofskonferenz wurde, habe ich dieses Erbe
eigentlich übernommen. Aber ich musste auch bald erkennen, dass es eine solche Überwucherung
mit sekundären Themen gab und auch mit problematischen Erwartungen: die Esoterik,
die Hildegard-Medizin, auch die Farbe Grün und vieles andere... Ich musste also sehen:
Wir haben nicht genügend eigene Standfestigkeit, um die zentralen Themen in den Vordergrund
zu stellen. So ist dieser Versuch damals, sie zur Kirchenlehrerin zu erheben, auch
deshalb geplatzt, weil ich erkennen musste: In der Kirche gelten Spielregeln der Erhebung
zur Kirchenlehrerin, die eine formelle Heiligsprechung voraussetzen, und das war bei
ihr nicht der Fall. Auf der anderen Seite musste ich auch als Bischof von Mainz mit
aller Klarheit sagen: Ich kann den Menschen, die die Hildegard als Heilige verehren,
heute nicht einfach zumuten, dass sie erst heiliggesprochen werden muss.“
Ein
Dilemma…
„Und dann waren aber auch gerade hier in Rom Leute, die meinten,
da müsse eben ein formeller Heiligsprechungsprozess durchgeführt werden wie in jedem
anderen Fall. Und da hat, glaube ich, der Papst eine weise Entscheidung getroffen
mit dem Dekret vom 10. Mai diesen Jahres, in dem er gesagt hat: Die heilige Hildegard
ist faktisch heilig, ohne Prozess, ohne alles, und das gilt für die ganze Weltkirche.
Dadurch war das Tor offen, um dann drei Wochen später, am 27. Mai, zu sagen: Jetzt
wird sie auch Kirchenlehrerin am 7. Oktober. Und das war ein kluger Schachzug.“
Was
für ein neues Gesicht hat die Galerie der Heiligen mit Hildegard bekommen?
„Sie
ist nicht so ganz einfach... Ich glaube, man muss ehrlich sein und sagen: Vieles an
ihr und von ihr ist nicht ohne Weiteres in die Kategorie einer Volksheiligen einzuordnen
– dafür ist es zu differenziert und setzt zu viel voraus. Es gibt auch die Gefahr,
dass man dann sekundäre Aspekte zu sehr in die Mitte rückt. Aber ich glaube, dass
sie mit den anderen Frauen, die Kirchenlehrerinnen geworden sind, mithalten kann.
Und es ist ja interessant, dass gerade ein Fach wie zum Beispiel die Philosophie,
die vor Jahrzehnten überhaupt keine Notiz nahm von einer heiligen Hildegard von Bingen,
ihr jetzt in großen zusammenfassenden Lehrbüchern ein eigenes, kleines Kapitel widmet,
das wäre nicht denkbar gewesen vor 20, 30 Jahren!“
Was bedeutet das?
„Dass
sich der Begriff der Heiligen mit ihr und mit solchen Frauen wandelt. Da darf man
nicht nur, wie soll ich sagen, auf eine fromme Weltschwester schauen, sondern auch
darauf, dass Frauen damals – die natürlich zum Teil aus adligen Familien kamen – einen
Zugang zur Bildung ihrer Zeit hatten, von dem wir eigentlich erst seit relativ kurzer
Zeit etwas wissen. Und dass damit auch eine neue Gestalt einer Synthese von Heiligkeit,
Spiritualität, Theologie und Weltoffenheit möglich ist. Und das eben aufgrund einer
unglaublich tiefen und so reich begabten Weiblichkeit, Fraulichkeit.“
Wird
Hildegard von Bingen auch noch das nächste Jahrhundert beschäftigen? In Ihrem Vortrag
haben sie ja angesprochen, dass Hildegard bis heute in vielen Punkten rätselhaft bleibt…
„Ja,
gerade deshalb ist da noch was drin! Weil das reizt natürlich, besser zu verstehen
– wir haben ja dank der immensen Arbeit der letzten Jahrzehnte eine fantastische Situation,
wir haben kritisch editierte Texte. Auch in diesem Moment machen die Schwestern in
Eibingen eine fantastische, erschwingliche, achtbändige Studienausgabe der wichtigsten
Texte der Hildegard. Es gibt auch eine große Verbreiterung der Forschung zu Hildegard,
auch in andere Wissenschaften hinein, da wird man noch manches neu entdecken. Ich
bin überzeugt davon, dass der Hildegard-Kongress im Februar-März 2013 noch Einiges
aufzeigen wird. Es ist noch viel historische Aufarbeitung nötig. Gott sei Dank gibt
es Leute, die sich darum kümmern, besonders Frauen nicht nur innerhalb der Orden,
sondern auch an Universitäten in Harvard, in den USA usw. Und da glaube ich, dass
das Interesse auch irgendwo stärker die systematische Theologie, die Dogmatik, die
Spiritualität erfasst und dass man dann das, was historisch erarbeitet worden ist,
auch fruchtbar macht über das hinaus, was uns jetzt unmittelbar einfällt.“