Wir dokumentieren die Rede Papst Benedikts an Politiker, Religionsführer und Kulturvertreter
im Präsidentenpalais in Beirut vom 15. September 2012.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren Vertreter des Parlaments und der Regierung sowie der öffentlichen
und politischen Institutionen des Libanon! Meine Damen und Herren Missionschefs
der diplomatischen Vertretungen! Eure Seligkeiten! Werte religiöse Würdenträger! Liebe
Brüder im Bischofsamt! Meine Damen und Herren! Liebe Freunde!
"Meinen Frieden
gebe ich euch“ [Original auf Arabisch] (Joh 14,27). Mit diesem Wort Jesu Christi möchte
ich Sie begrüßen und Ihnen für den Empfang und für Ihre Anwesenheit danken. Ich danke
Ihnen, Herr Präsident, nicht nur für Ihre herzlichen Worte, sondern auch dafür, daß
Sie diese Begegnung möglich gemacht haben. Zusammen mit Ihnen habe ich eben eine Libanonzeder,
Symbol Ihres schönen Landes, gepflanzt. Beim Anblick dieses Bäumchens, das viel Betreuung
brauchen wird, bis es kräftig wird und seine majestätischen Äste ausbreiten kann,
habe ich an euer Land und sein Schicksal gedacht, an die Libanesen und ihre Hoffnungen,
an alle Menschen in dieser Region der Welt, welche die Schmerzen einer nicht enden
wollenden Niederkunft durchzumachen scheint. Da habe ich Gott gebeten, euch zu segnen,
den Libanon und alle Bewohner dieser Region zu segnen, die große Religionen und hohe
Kulturen entstehen sah. Warum hat Gott diese Region erwählt? Warum ist sie solchen
Stürmen ausgesetzt? Gott hat sie, so scheint mir, als Beispiel ausgewählt, damit sie
vor der Welt bezeugt, welche Möglichkeiten der Mensch hat, um seine Sehnsucht nach
Frieden und Versöhnung konkret zu leben! Dieses Streben ist seit jeher in den Plan
Gottes eingeschrieben, der es in des Menschen Herz eingeprägt hat. Der Friede ist
es, über den ich mit euch sprechen möchten, denn Jesus hat gesagt: „Meinen Frieden
gebe ich euch“ [Original auf Arabisch].
Ein Land ist reich vor allem durch
die Menschen, die in ihm leben. Von jedem von ihnen und von allen zusammen hängen
seine Zukunft und seine Fähigkeit ab, sich für den Frieden zu engagieren. Ein solches
Engagement wird nur in einer geeinten Gesellschaft möglich sein. Einheit bedeutet
jedoch nicht Einförmigkeit. Der Zusammenhalt der Gesellschaft wird durch die ständige
Achtung der Würde jedes Menschen gewährleistet ebenso wie durch den verantwortlichen
Beitrag eines jeden einzelnen entsprechend seiner Fähigkeiten zum ihrem Besten. Um
den für den Aufbau und die Festigung des Friedens notwendigen Dynamismus sicherzustellen,
muß man immer wieder zu den Grundlagen des Menschen zurückkehren. Die Würde des Menschen
ist nicht zu trennen von der Heiligkeit des vom Schöpfer geschenkten Lebens. Im Plan
Gottes ist jeder Mensch einzigartig und unersetzbar. Er kommt in einer Familie zur
Welt, die der erste Ort seiner Humanisierung und vor allem die erste Erzieherin zum
Frieden ist. Um den Frieden aufzubauen, muß sich daher unsere Aufmerksamkeit auf die
Familie richten, um ihre Aufgabe zu erleichtern, sie auf diese Weise zu unterstützen
und dadurch überall eine Kultur des Lebens zu fördern. Die Wirksamkeit des Einsatzes
für den Frieden hängt davon ab, welche Auffassung vom menschlichen Leben die Welt
haben kann. Verteidigen wir das Leben, wenn wir den Frieden wollen! Diese Logik schließt
nicht nur den Krieg und terroristische Aktionen aus, sondern auch jeden Angriff auf
das Leben des Menschen, des von Gott gewollten Geschöpfes. Die Gleichgültigkeit oder
die Leugnung dessen, was die wahre Natur des Menschen ausmacht, verhindern die Achtung
jener Grammatik, die das dem Menschen ins Herz eingeschriebene Naturrecht ist (vgl.
Botschaft zum Weltfriedenstag 2007, Nr. 3). Die Größe und der Seinsgrund jedes Menschen
sind nur in Gott zu finden. Die bedingungslose Anerkennung der Würde jedes Menschen,
eines jeden von uns und die Anerkennung der Heiligkeit des Lebens schließen die Verantwortung
aller vor Gott ein. Wir müssen deshalb unsere Anstrengungen vereinen, um eine gesunde
Anthropologie zu entwickeln, die die Einheit der Person einschließt. Ohne sie ist
der Aufbau wahren Friedens nicht möglich.
Auch wenn sie in den Ländern sichtbarer
sind, die bewaffnete Konflikte – diese Kriege voll Selbstüberhebung und voll Schrecken
– durchmachen, so gibt es Angriffe auf die Unversehrtheit und das Leben von Menschen
auch in anderen Ländern. Arbeitslosigkeit, Armut, Korruption, verschiedene Abhängigkeiten,
Ausbeutung, Handel aller Art und Terrorismus führen neben dem unannehmbaren Leid der
davon betroffenen Opfer zu einer Schwächung der menschlichen Möglichkeiten. Die Wirtschafts-
und Finanzlogik will uns unaufhörlich ihr Joch aufzwingen und dem Haben vor dem Sein
den Vorrang geben! Aber der Verlust jedes Menschenlebens ist ein Verlust für die ganze
Menschheit. Diese ist eine große Familie, für die wir alle verantwortlich sind. Gewisse
Ideologien, die immer wieder direkt oder indirekt oder sogar legal den unveräußerlichen
Wert jedes Menschen und die natürliche Grundlage der Familie in Frage stellen, untergraben
damit die Fundamente der Gesellschaft. Wir müssen uns dieser Angriffe auf den Aufbau
und die Harmonie des Zusammenlebens bewußt sein. Nur eine echte Solidarität ist das
Gegenmittel gegen all das. Solidarität, um das abzuweisen, was die Achtung jedes Menschen
behindert; Solidarität, um die politischen Maßnahmen und die Initiativen zu unterstützen,
die darauf hinarbeiten, die Völker auf ehrliche und gerechte Weise zu vereinen. Es
ist schön, die Aktionen von Zusammenarbeit und echtem Dialog zu sehen, die eine neue
Weise des Zusammenlebens schaffen. Eine bessere Qualität des Lebens und einer ganzheitlichen
Entwicklung ist nur möglich, wenn unter Achtung der Identität jeder Seite ein Teilen
der Reichtümer und Kompetenzen erfolgt. Aber eine solche Weise ausgeglichenen und
dynamischen Zusammenlebens kann es ohne das Vertrauen in den anderen, wer immer es
auch sei, nicht geben. Heute müssen die kulturellen, sozialen und religiösen Unterschiede
dazu führen, ein neues Modell von Brüderlichkeit zu leben, wo eben das Verbindende
die gemeinsame Auffassung von der Größe des ganzen Menschen ist und das Geschenk,
das er für sich selbst, für die anderen und für die Menschheit ist. Dort ist der Weg
des Friedens zu finden! Dort liegt das Engagement, das von uns verlangt wird! Dort
liegt die Orientierung, welche die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen
auf jeder Ebene und in planetarem Maßstab leiten muß!
Um den Generationen von
morgen eine Zukunft in Frieden zu eröffnen, ist daher die erste Aufgabe die Erziehung
zum Frieden, um eine Friedenskultur aufzubauen. Die Erziehung in der Familie oder
in der Schule muß vor allem Erziehung zu den geistigen Werten sein, die der Weitergabe
des Wissens und der Traditionen einer Kultur ihren Sinn und ihre Kraft geben. Der
menschliche Geist hat einen angeborenen Sinn für das Schöne, Gute und Wahre. Das ist
das Siegel des Göttlichen, die Spur Gottes in ihm! Von diesem universalen Streben
rührt eine feste und rechte Moralauffassung her, die immer den Menschen ins Zentrum
rückt. Der Mensch kann sich aber nur frei zum Guten hinwenden, denn „die Würde des
Menschen verlangt, daß er in bewußter und freier Wahl handle, das heißt personal,
von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem innerem Drang oder unter
bloßem äußerem Zwang“ (Gaudium et spes. 17). Es ist Aufgabe der Erziehung, das Reifen
der Fähigkeit zu begleiten, freie und rechte Entscheidungen zu treffen, die gegenläufig
zu verbreiteten Meinungen, Moden, politischen und religiösen Ideologien sein können!
Der Aufbau einer Friedenskultur hat diesen Preis! Die verbale oder physische Gewalt
muß sichtlich ausgemerzt werden. Gewalt ist immer ein Angriff auf die menschliche
Würde sowohl des Opfers wie des Täters. Wenn die Friedenswerke und ihre Ausstrahlung
auf das Gemeinwohl aufgewertet werden, weckt man außerdem auch das Interesse für den
Frieden. Wie die Geschichte bezeugt, spielen solche Friedensgesten eine beachtliche
Rolle im gesellschaftlichen, nationalen und internationalen Leben. Die Erziehung zum
Frieden wird somit hochherzige und aufrechte Männer und Frauen formen, die allen gegenüber,
besonders den Schwächsten gegenüber aufmerksam sind. Gedanken, Worte und Gesten des
Friedens erzeugen eine von Achtung, Ehrlichkeit und Herzlichkeit geprägte Atmosphäre,
wo die Fehltritte und Beleidigungen tatsächlich zugegeben werden können, um dann gemeinsam
zur Versöhnung weiterzuschreiten. Mögen die Staatsmänner und die Verantwortungsträger
der Religionen darüber nachdenken!
Wir müssen uns wohl bewußt sein, daß das
Böse nicht eine anonyme Kraft ist, die auf unpersönliche oder deterministische Weise
in der Welt agiert. Das Böse, der Dämon führt über die menschliche Freiheit, über
den Gebrauch unserer Freiheit. Es sucht einen Verbündeten, den Menschen. Das Böse
braucht, um sich auszubreiten, den Menschen. Nachdem es auf diese Weise das erste
Gebot der Gottesliebe beleidigt hat, geht es daran, das zweite Gebot der Nächstenliebe
zu entstellen. Damit verschwindet die Nächstenliebe zugunsten der Lüge und des Neides,
des Hasses und des Todes. Aber es ist möglich, sich nicht vom Bösen besiegen zu lassen
und das Böse durch das Gute zu besiegen (vgl. Röm 12,21). Zu dieser Umkehr des Herzens
sind wir aufgerufen. Ohne sie stellen sich die so sehr ersehnten menschlichen „Befreiungen“
als Enttäuschungen heraus, denn sie bewegen sich in dem von der Enge des menschlichen
Geistes, seiner Härte, seiner Intoleranz, seines Günstlingsgehabes, seiner Rachegelüste,
seines Todestriebs eingeschränkten Raum. Die Umwandlung in der Tiefe des Geistes und
des Herzens ist notwendig, um einen gewissen Scharfblick und eine gewisse Unparteilichkeit,
den tiefen Sinn für Gerechtigkeit und für das Gemeinwohl zurückzugewinnen. Ein neuer
und freierer Blick soll dazu fähig machen, menschliche Systeme, die in Sackgassen
führten, zu analysieren und in Frage zu stellen, um der Vergangenheit Rechnung tragend
voranzuschreiten, damit diese mit ihren verheerenden Auswirkungen nicht wiederholt
werde. Diese erforderte Umkehr reißt mit, denn sie eröffnet Möglichkeiten dadurch,
daß sie einen Anruf an die zahlreichen Ressourcen richtet, welche im Herzen so vieler
Männer und Frauen wohnen, die sich nach einem Leben in Frieden sehnen und bereit sind,
sich für den Frieden einzusetzen. Diese Umkehr ist nun besonders anspruchsvoll, wenn
es darum geht, nein zur Rache zu sagen, eigene Fehler einzugestehen, Entschuldigungen
anzunehmen, ohne sie zu suchen, und schließlich zu vergeben. Denn nur die gewährte
und empfangene Vergebung legt die dauerhaften Grundlagen der Versöhnung und des Friedens
für alle (vgl. Röm 12,16b.18).
Nur so können das gute Einvernehmen zwischen
den Kulturen und den Religionen, die gegenseitige Wertschätzung ohne Herablassung
und die Achtung vor den Rechten jeder Seite wachsen. Der Dialog ist nur in dem Bewußtsein
möglich, daß es Werte gibt, die allen großen Kulturen gemeinsam sind, weil sie in
der Natur des Menschen verwurzelt sind. Diese Werte, die so etwas wie ein Nährboden
sind, bringen die authentischen und charakteristischen Züge des Menschlichen zum Ausdruck.
Sie gehören zu den Rechten jedes Menschen. In der Bestätigung der Existenz dieser
Werte leisten die verschiedenen Religionen einen entscheidenden Beitrag. Vergessen
wir nicht, daß die Religionsfreiheit das Grundrecht ist, von dem viele andere abhängen.
Sich zu seiner Religion zu bekennen und sie frei zu leben, ohne sein Leben und seine
Freiheit in Gefahr zu bringen, muß jedem möglich sein. Der Verlust oder die Schwächung
dieser Freiheit beraubt den Menschen des heiligen Rechts auf ein ganzheitliches Leben
auf geistlicher Ebene. Die sogenannte Toleranz hebt die Diskriminierungen nicht auf,
mitunter verstärkt sie diese sogar. Und ohne die Öffnung zum Transzendenten, die ihn
Antworten auf die Fragen seines Herzens nach dem Sinn des Lebens und nach der Art
der moralischen Lebensführung finden läßt, wird der Mensch unfähig dazu, gemäß der
Gerechtigkeit zu handeln und sich für den Frieden einzusetzen. Die Religionsfreiheit
hat eine für den Frieden unverzichtbare gesellschaftliche und politische Dimension!
Sie fördert eine Koexistenz und ein harmonisches Leben durch den gemeinsamen Einsatz
im Dienst edler Anliegen und durch die Suche nach der Wahrheit, die sich nicht durch
Gewalt aufdrängt, sondern „durch die Kraft der Wahrheit selbst“ (Dignitatis humanae,
1), jener Wahrheit, die in Gott ist. Denn der gelebte Glaube führt stets zur Liebe.
Der echte Glaube kann nicht zum Tod führen. Der Friedensstifter ist demütig und gerecht.
Die Gläubigen haben deshalb heute eine wesentliche Rolle, nämlich Zeugnis zu geben
von dem Frieden, der von Gott kommt und der ein Geschenk an alle im persönlichen,
familiären, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben ist (vgl. Mt 5,9; Hebr
12,14). Die Untätigkeit der rechtschaffenen Menschen darf nicht zulassen, daß das
Böse triumphiert. Noch schlimmer aber ist es, gar nichts zu tun.
Diese paar
Überlegungen über den Frieden, die Gesellschaft, die Würde des Menschen, über die
Werte der Familie und des Lebens, über den Dialog und die Solidarität können nicht
bloß formulierte Ideen bleiben. Sie können und sollen gelebt werden. Wir befinden
uns im Libanon, und hier sollen sie gelebt werden. Der Libanon ist jetzt mehr denn
je dazu aufgerufen, ein Vorbild zu sein. Politiker, Diplomaten, Vertreter der Religionen,
Männer und Frauen aus der Welt der Kultur, ich fordere euch daher auf, gelegen oder
ungelegen in eurer Umgebung mutig Zeugnis davon zu geben, daß Gott den Frieden will,
daß Gott uns den Frieden anvertraut. „Meinen Frieden gebe ich euch“ [Original auf
Arabisch] (Joh 14,27), sagt Christus! Gott segne euch! Danke!