Harissa – der wichtigste Marienwallfahrtsort in Nahost
Sie hämmern und schrauben
hoch über der Bucht von Junieh: Die Bauarbeiter machen hier auf ca. 600 Metern über
dem Mittelmeer alles bereit für den Papst, der auf diesem malerischen Hügel während
seines Libanon-Besuchs wohnt. Harissa heißt der Ort 20 km nördlich von Beirut, hier
liegt die Nuntiatur, hier liegt die griechisch-melkitische Kathedrale, aber vor allem
ist Harissa der wichtigste Marienwallfahrtsort des ganzen Nahen Ostens. Nicht nur
Christen, sondern auch viele Muslime kommen, um betend die etwa 100 Stufen zu einer
weißen Muttergottesstatue hochzusteigen; Maria, achteinhalb Meter hoch, eine Krone
auf dem Haupt, breitet segnend die Hände über das Land. Drei Messen werden hier oben
jeden Tag gefeiert, an Festtagen sind es zehn; es gibt einen kleinen Laden, eine Seilbahn
und Restaurants. Das Gelände ist nicht sehr groß, es wirkt ein bisschen wie Lourdes
mit Picknick-Möglichkeit. Pater Yunan Obeid ist der Vizerektor des Wallfahrtsorts,
er berichtet:
„Wir hatten vor 15 Jahren hier den Besuch von Papst Johannes
Paul II.; seitdem hat sich die Zahl der Pilger und Besucher deutlich erhöht. Jetzt
warten die Menschen auf den neuen Papst, diesen großen Theologen – alle wollen dabei
sein, wenn er kommt, und wollen, dass er ihnen neue Hoffnung gibt, vor allem in diesem
Moment, wo die Region in Unruhe geraten ist, etwa bei unseren syrischen Nachbarn.
Die Christen hoffen, dass der Papst ihnen Mut macht, im Libanon zu bleiben.“
Die
Verehrung „Unserer Lieben Frau vom Libanon“ war im ganzen Land ausgesprochen hoch,
schon bevor der Wallfahrtsort von Harissa 1908 eingerichtet wurde. Libanesische Christen
sehen in Maria die geheimnisvolle Geliebte aus dem Libanon, die vom Hohelied des Alten
Testaments besungen wird. „Du Zeder vom Libanon, bitte für uns“, diese Anrufung haben
die Maroniten eigens in ihre Fassung der Lauretanischen Litanei eingefügt. In der
Marienverehrung treffen sich Libanons Christen mit den Muslimen, die die Gestalt der
Mariam aus dem Koran kennen. Viele der Familien, die über das Gelände des Heiligtums
von Harissa laufen, sind schon an ihrer Kleidung als Nichtchristen zu erkennen.
„Wir
sind hier, um uns die schöne Aussicht anzuschauen“, sagt ein junger Muslim aus dem
Südlibanon. „Das hier ist ein großes Symbol libanesischer Geschichte“, setzt seine
Schwester hinzu, „aber wir wissen, dass das auch ein wichtiger religiöser Ort ist.
Wir sind Muslime, aber wir teilen uns mit den Christen eine gemeinsame religiöse Kultur.“
„Harissa
ist auch für Muslime sehr wichtig“, sagt diese junge Muslimin. „Es erinnert uns daran,
dass die Religion zum Frieden einlädt und dass wir zusammengehören. Dass wir ähnlich
denken und dass wir unsere Mentalitäten noch weiter annähern sollten.“
„Schon
seit 1908 trifft man hier Menschen aller möglichen Herkunft und Glaubensrichtung“,
erklärt der maronitische Missionar Pater Obeid bei einer Zigarettenpause im Gebäude
der Direktion. „Was die Muslime betrifft, kommen 90 Prozent von ihnen vor allem aus
touristischen Gründen und nicht etwa, um hier zu beten. Bis vor kurzer Zeit gab es
allerdings auch muslimische Gruppen, die organisiert und aus religiöser Motivation
hierhin kamen – vor allem aus dem Iran. Wir haben für sie das Evangelium auf Persisch
gedruckt und eine Broschüre über die Verkündigung an Maria, die sowohl im Koran vorkommt
als auch im Lukasevangelium. Aber seit den Ereignissen in Syrien sind die Iraner nicht
mehr gekommen, und dieser Austausch ist zum Erliegen gekommen. Es ist selten, dass
uns Muslime irgendetwas fragen“, so erzählt der Missionar weiter; „meistens gehen
sie nur herum, hören etwas bei der Messe zu. Man kann nicht unterscheiden, ob sie
Schiiten, Drusen oder Sunniten sind – für uns sind es einfach Brüder. Wenn sie hier
beten wollen auf dem Gelände, dann lassen wir sie beten, in dieser Frage sind wir
tolerant.“
Oben die Bronzestatue Mariens, unten das glitzernde Mittelmeer,
und hier in Harissa eine kleine interreligiöse Oase. Der Clash der Zivilisationen
scheint hier noch nicht angekommen, die neuesten Nachrichten – Unruhen in Kairo, aufgebrachter
Mob tötet US-Botschafter in Libyen – wirken hier oben weit weg.
„Wir wollen
hier neue Kulturen kennenlernen“, sagt ein Palästinenser; er kommt aus Jordanien,
seine Begleiter sind aus Syrien. „Wir sind hier auf einem Familienausflug, wir machen
Fotos und lernen viel von anderen Kulturen.“
„Wir sind nach Harissa
gekommen, um Mariam zu sehen“, erklärt eine Muslimin aus der libanesischen Bekaa-Ebene
nicht weit von der Grenze zu Syrien. „Wir wollen beten und mit der Seilbahn fahren.
Und natürlich auch gut essen, ja.“