Kardinal Martini: Stärkere Zuwendung zu den Menschen nötig
Der langjährige Erzbischof von Mailand, Kardinal Carlo Maria Martini, hat kurz vor
seinem Tod eine Umkehr der Kirche und eine stärkere Zuwendung zu den Menschen gefordert.
Die Mailänder Tageszeitung „Corriere della Sera“ veröffentlichte am Wochenende ein
Interview mit dem am Freitag im Alter von 85 Jahren verstorbenen Jesuiten und Bibelwissenschaftler.
Den Angaben zufolge hatte der österreichische Jesuit Georg Sporschill das Gespräch
Anfang August geführt, wenige Tage bevor sich der Zustand des an Parkinson leidenden
Martinis verschlechterte. Die Kirche sei um 200 Jahre zurückgeblieben und müde, stellt
Martini in dem Interview fest. Sie müsse sich aufraffen und ihre Angst überwinden,
denn Glauben, Vertrauen und Mut seien die Fundamente der Kirche. Die Missbrauchsskandale
drängten sie dazu, sich zu bekehren, ihre Fehler zuzugeben und „einen radikalen Weg
der Veränderung zu beschreiten“, sagte Martini. Als Beispiel nannte er die Themen
Sexualität und Körperlichkeit, die für jeden Menschen wichtig seien. Die Kirche müsse
sich fragen, ob die Menschen auf diesem Feld noch auf ihre Ratschläge hörten oder
ob sie „nur noch eine Karikatur in den Medien“ sei.
Auch zu anderen „heißen
Themen“ wie den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen und mit Patchwork-Familien
hat sich der Kardinal geäußert. Die Bedeutung von Dogmen und Kirchengesetzen dürfe
nicht überbetont werden, warnte der Kardinal. Die Menschen bräuchten die Bibel, das
„einfache Wort Gottes“, um auf persönliche Fragen richtig antworten zu können. Weder
der Klerus noch das Kirchenrecht könne an die Stelle des Innenlebens eines Menschen
treten. „Ich bin alt, krank und von der Hilfe anderer abhängig“, sagte der Kardinal.
Aber er spüre die Liebe, die stärker sei als jede Entmutigung, die ihn angesichts
der Herausforderungen der Kirche in Europa immer wieder beschleiche.