Die Betrachtung zum Sonntagsevangelium stammt in diesem Monat Juli aus der Feder
unseres langjährigen Kollegen bei Radio Vatikan, des deutschen Priesters Ludwig Waldmüller.
Liebe
Hörerin, lieber Hörer,
Sie gehören zu meinen absoluten Lieblingsfilmen: Die
zehn Filme über die Zehn Gebote von Krysztof Kieslowski. Der „Dekalog“ des polnischen
Filmemachers ist für mich Filmkunst auf höchstem Niveau. Jedes Mal entdecke ich in
den Filmen etwas Neues. Eine Sache gibt mir aber Rätsel auf, seit ich den Dekalog
damals in der Uni zum ersten Mal gesehen habe: Der „geheimnisvolle Mann“. In verschiedenen
der zehn Filme taucht immer wieder ein Mann auf, der nie etwas sagt, aber immer in
den entscheidenden Momenten mit seinen blauen Augen den Zuschauer ansieht. Oder in
die Unendlichkeit schaut. Oder sonstwohin seinen Blick richtet. Aber er scheint in
diesen Filmen immer der einzige zu sein, der versteht, wie entscheidend der Moment
gerade ist, um den es geht. Die nachdenklich-tiefgehenden Augen des geheimnisvollen
Mannes sind mir in den Sinn gekommen, als ich das heutige Evangelium las. Jesus, wird
erzählt, setzt sich auf einen Berg zusammen mit seinen Jüngern. Und dann – blickt
er auf und sieht die Menschen, die Hunger haben. Dieser Blick geht mir nicht aus dem
Kopf. Wie oft bräuchte es auch heute einen solchen Blick wie den Jesu, der die Not
der Menschen erkennt. Doch der Blick alleine reicht noch nicht. Man muss auch was
tun! Im Evangelium kommen verschiedene Menschen vor, die auf unterschiedliche Weise
mit dem umgehen, was Jesus sieht:
Philippus Da ist zuerst
der Apostel Philippus: Was sagt er gleich wieder, als Jesus ihn fragt: „Wo sollen
wir Brot kaufen, damit diese Leute zu essen haben“? Richtig: „Brot für zweihundert
Denare reicht nicht aus, wenn jeder von ihnen auch nur ein kleines Stück bekommen
soll.“ Philippus ist der typische Kopfmensch, der verstudierte Rationalist, der alles
von vornherein berechnen will. Und er ist gleichzeitig der große Pessimist: Das kann
nichts werden. Brot für zweihundert Denare, also für 5000 Euro würde nicht reichen.
Philippus kann rechnen. Und er kennt sich aus. Meint er zumindest. Denn die Geschichte
lehrt ihn das Gegenteil: Entgegen all seiner Berechnungen ist es eben doch möglich!
Wie oft sind wir Menschen in der Versuchung genau so auf Herausforderungen zu reagieren.
Wir sehen die Not der Menschen und sagen darauf nur: Das können wir sowieso nicht
ändern. Das ist nicht realistisch. Das wird nicht funktionieren. Das gilt für so viele
Bereiche, in der großen Politik genauso wie in der Frage der globalen Gerechtigkeit
oder auch in Fragen der Pastoral heute in unseren Pfarreien. Das heutige Evangelium
lehrt: Die Skepsis des berechnenden Philippus erweist sich als falsch. So an die verschiedensten
Arten des Hungers der Menschen heranzugehen, ist nicht zielführend.
Andreas Ein
anderes Umgehen mit der Situation der Menschen ist im Evangelium zu sehen: Andreas,
der Bruder des Simon Petrus. Er hat ein anderes Herangehen an das Problem des Hungers
der Menschen: „Hier ist ein kleiner Junge, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische;
doch was ist das für so viele!“, sagt er – und sagt damit indirekt: Unsere Mittel
reichen nicht aus, wir schaffen das nie. Mit dem, was wir haben, brauchen wir erst
gar nicht anzufangen. Das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Andreas steht
hier für die gesammelte Mutlosigkeit, Menschenfurcht und Kleingläubigkeit der Menschheit.
Das kann nichts werden – unsere Mittel sind viel zu klein! Er unterschätzt sich und
seine Mittel vollkommen, denn auch er wird eines besseren belehrt! Die fünf Brote
und zwei Fische werden sehr wohl ausreichen. Andreas ist der Bedenkenträger schlechthin.
Derjenige, der seine Fähigkeiten kolossal unterschätzt. Und derjenige, der nicht mit
der Macht Jesu rechnet, die er doch eigentlich langsam kennen sollte, nachdem er schon
einige Zeit mit seinem Meister unterwegs ist. Auch diesen Andreas kann ich heute im
Privatleben, in der Politik und, ja, in der Kirche ganz deutlich sehen. Der Oberbedenkenträger,
der keinen Mut hat, es auch nur einmal zu versuchen.
Jesus Und
dann ist da noch ein dritter: Genau, Jesus. Er spricht ganz anders. Er argumentiert
weder gegen den berechnenden Skeptiker, noch gegen den mutlosen Bedenkenträger, er
sagt schlicht und einfach: „Lasst die Leute sich setzen!“ Jesus ist derjenige, der
allen Unkenrufen zum Trotz einfach anfängt. Er handelt angesichts der Not, egal, ob
es wirtschaftlich gerechtfertigt oder viel Mut fordernd ist. Er geht den Hunger der
Menschen einfach an. Er vertraut. Er macht. Und er hat Erfolg. In Jesus sehe ich alle
die Mutter Teresas, Don Boscos und Adolph Kolpings dieser Erde, die die Not der Menschen
gesehen und einfach angefangen haben. In Jesus sehe ich all jene, die handeln, ob
es nun für andere wirtschaftlich und richtig aussieht oder nicht. Genau diese Haltung
wünsche ich uns, in der Politik, im privaten Leben und vor allem in der Kirche, im
Eintreten fürs Evangelium.
Liebe Hörerin, lieber Hörer, wie der geheimnisvolle
Mann in Kieslowskis Dekalog nimmt Jesus die Not der Menschen wahr. Die Not ist seinen
Jüngern auch bewusst. Philippus ist gegen das Handeln, weil er aufgrund seiner Berechnungen
einen Erfolg für unmöglich hält. Andreas hat Angst vor der Kleinheit seiner Mittel.
Und Jesus handelt. Ganz einfach. Er nimmt die begrenzten Mittel seiner Jünger und
macht daraus Unbeschreibliches. Damals wie heute.