Sie stürmten mit entblößtem
Busen Moskaus orthodoxe Kathedrale, drangen in den Altarraum ein, den nur Geistliche
betreten dürfen, und brüllten: „Maria, Mutter Gottes - verjage Putin!" Für diesen
schrillen Akt des Protests sitzen drei russische Punk-Musikerinnen seit März in Untersuchungshaft,
die ihnen jetzt auf elf Monate verlängert wurde. Aus westlicher Sicht scheint das
Vorgehen der russischen Justiz ungerechtfertigt hart. Aber wer so denkt, verkennt,
wie tief der Vorfall das religiöse Empfinden orthodoxer Gläubiger verstört. Gudrun
Sailer sprach mit einem Ostkirchen-Fachmann.
Blasphemie – ein ernstes Wort,
das der westliche Kulturkreis gelernt hat, weniger ernst nehmen zu wollen, als es
ist. Die russisch-orthodoxe Kirche hat sich längere Zeit überhaupt nicht zu dem Vorfall
in ihrer Moskauer Kathedrale geäußert und dann nach einiger Zeit verlautbart, die
Punk-Aktion der Frauenband namens „Pussy Riot“ sei Blasphemie. Damit sprachen sie
ihren Gläubigen aus der Seele, sagt der deutsche katholische Priester Nikolaus Wyrwoll,
Bischöflicher Beauftragter für die Kontakte mit den Kirchen des Ostens und für Ökumene.
Im Interview mit Radio spricht er über
„diese große und zeichenhafte Ehrfurcht
der Russen, vieler Russen, vor dem Heiligen. Es würde etwa keine Frau ohne Kopftuch
in die Kirche gehen. Oder das Küssen der Ikonen, das Verneigen vor der Ikone, das
Identifizieren, das Schweigen – niemand darf den Altarraum betreten außer den dafür
geweihten Dienern, und jetzt laufen da Frauen halbnackt hinein und schreien – ich
könnte mir vorstellen, dass für viele fromme, einfache Leute oder Intellektuelle,
diese Erlöserkirche nicht mehr zum Gebet geeignet ist. Sie gehen da nicht mehr hin,
wenn sie daran denken müssen, dass sie von solchen Ereignissen gestört worden ist.“
Da
tritt eine Sensibilität für das Religiöse zutage, die uns im Westen vielfach abhanden
gekommen ist, meint Wyrwoll. Diese Sensibilität rührt aus seiner Sicht daher, dass
der Gläubige des Westens einen eher abstrakten Zugang zum Heiligen haben;
“dass
wir im Westen stark von den Worten und Formulierungen ausgehen, während der Osten
allgemein das stark Ganzmenschlich sieht. Wir singen: „Hier liegt vor deiner Majestät“,
aber wir legen uns nicht hin dabei. Aber der östliche Mensch legt sich eben hin dabei,
er verneigt sich, schlägt das Kreuz, betet mit dem ganzen Menschen. Darum sind auch
solche Handlungen, von denen wir sagen, das ist äußerlich und das muss man interpretieren,
für den orthdoxen Gläubigen gleich ein wichtiges Hindernis, weiter zu glauben. Die
Trennung zwischen Form und Inhalt, die uns so langsam geläufig geworden ist in den
letzten Jahrzehnten, gibt es im Osten nicht oder noch nicht.“
Die drei
russischen Punk-Musikerinnen haben ihren Aussagen zufolge damals im Februar, kurz
vor den Präsidentschaftwahlen, grundsätzlich gegen die Verflechtung zwischen Religion
und Politik protestiert. Viele Beobachter im Westen gewannen den Eindruck, die Künstlerinnen
trafen damit einen Nerv – und das sei der Grund, warum sie jetzt vor dem Moskauer
Gericht mit derartiger Strenge behandelt werden. In Russland selbst glauben die Leute
das weniger, sagt Wyrwoll, der sich mit vielen Bekannten über das Thema ausgetauscht
hat. Vielmehr glauben die Leute,
“dass die Richter ein Exemplel statuieren
wollen. Mit Putin hat das nichts zu tun, außer dasss die Frauen das Wort Putin gerufen
haben. Aber das Gerichtsverfahren denkt sicher auch daran, dass in der ganzen ehemaligen
Sowjetunion unendlich viele Angriffe auf die Kirche und das Heilige gibt, auch auf
Moscheen, aber besonders viel eben auf Kirchen, und dass die Richter vielleicht die
Hoffnung haben, andere Täter abzuschrecken. Jede Woche höre ich von meinen Freunden,
dass von Brest bis Wladiwostock und von Murmansk bis Odessa Kirchen beschmiert und
Kreuze abgebrochen werden, besonders auf den Friedhöfen, dass Ikonen gestohlen werden
und die Polizei sich wenig bemüht, die Sachen aufzudecken.”
Überhaupt,
die Verflechtung von Staat und Religion in Russland - der Ostkirchen-Fachmann sieht
darin ein westliches Missverständnis. In allen östlichen Ländern sei Religion immer
Teil des Staates und der Gesellschaft gewesen. Und lange Zeit war das auch bei uns
so.
„In Russland haben selbstverständlich die Zaren die Bischöfe ernannt
und die evangelischen Superintendenten. Wie auch bei uns im Westen bis zum ersten
Weltkrieg der König von Bayern die Bischöfe ernannt hat und die Superintendenten.
Wir haben das hier blitzschnell vergessen. Im Osten hat das noch angehalten bis in
die 90er Jahre, also bis zur Perestroika, sodass man also seit den letzten 20 Jahren
doch eine ständige Entflechtung hat und ein Selbständigwerden der Kirche vom Staat
und von der Gesellschaft, wie wir das seit dem ersten Weltkrieg geübt und perfektioniert
haben.“
Ende vergangener Woche war also Prozessauftakt in Moskau für die
drei Punk-Musikerinnen. Draußen vor der Tür gab es Demonstrationen – teils für, teils
gegen die jungen Frauen und ihre Aktion. Zwei von ihnen sind übrigens Mütter kleiner
Kinder. Sollte die orthodoxe Kirche sich öffentlich für mehr Milde im Umgang mit den
Musikerinnen aussprechen? Der Ostkirchenfachmann denkt nicht, dass das geschehen wird.
Und zwar deshalb, weil
“die meisten Leute in Russland ohnehin erwarten,
dass da am Ende dann doch milde gehandelt wird, weil das immer so war.“