2012-07-12 17:38:30

Ägypten: „Das Volk hat es satt“


RealAudioMP3 An diesem Dienstag ist in Ägypten das vom Verfassungsgericht aufgelöste Parlament entgegen dem höchstrichterlichen Urteil von Präsident Mohammed Mursi einberufen worden. Unter Protesten der Bevölkerung und der Opposition, aber auch dem Jubel der Anhänger Mursis, haben sich die Abgeordneten zu einer kurzen Sitzung zusammengefunden. Dabei wurde entschieden, das Urteil des Verfassungsgerichts, obwohl dieses per se das höchstmögliche Gerichtsorgan darstellt, an das Kassationsgericht zu überweisen. Ein harscher Konflikt zwischen den Institutionen schien unausweichlich. Nun zeigt sich Mohammed Mursi aber versöhnlich. Ich habe mit dem Leiter der deutschsprachigen Gemeinde in Kairo, Pfarrer Joachim Schroedel, gesprochen:

„Der Präsident sagte, er respektiere selbstverständlich die Autorität des Verfassungsgerichts. Das hat er gestern noch einmal verlauten lassen. Aber im Kontext liest man dann eben auch, er wollte es einfach einmal probieren. Er persönlich fand wohl die Idee gar nicht so schlecht, das Parlament einfach wieder einzuberufen. Man sieht also diese hilflosen Versuche einer Demokratisierung. Im Hintergrund steht natürlich ein sehr spannendes und auch ernstes Spiel: Wer wird nun voran schreiten? Und wer wird letztlich doch die Macht haben? Und in gewisser Weise hat natürlich Präsident Mursi auch die Berechtigung, das dann einmal einzuklagen. Er sieht sich ja selbst sicherlich nicht nur als eine Marionette des Militärs, aber auch ebenso wahrscheinlich nicht als die Puppe der Muslimbrüder.“

Hat das Kräftespiel Mursi Profil verschafft?

„Nein, das glaube ich nicht. Es hat ihm eher geschadet. Er wollte sicherlich zeigen, was er als Präsident kann, aber die Bevölkerung, die das Ganze wirklich sehr gut mitbekommt, ist, so wie ich es in vielen Gesprächen erfahren habe, davon nicht sehr angetan gewesen. Es geht jetzt darum, dass in Ägypten Schritte in die soziale und demokratisierende Richtung geschehen. Dass die Menschen spüren, es ändert sich etwas. Es geht jetzt nicht darum, wer hat mehr Rechte und wer kann über den anderen bestimmen. Die Menschen sind es satt immer nur politischen Disput zu hören, ohne dass sie selbst davon profitieren. Und das spürt man jetzt auch wieder bei den Jugendlichen – und auch jugendlichen parteinahen Bewegungen: Sie sagen, wir müssen jetzt selber sehen, dass wir als Ägypter wieder voran kommen und dass wir aus dem Status eines Schwellen-oder Entwicklungslandes herauskommen. Wir müssen initiativ werden, um uns selbst versorgen zu können. Das sind natürlich Dinge, die der Staat jetzt noch nicht angreift. Gebe Gott, dass möglichst bald auch eine Regierung geschaffen wird, sprich ein Ministerpräsident ernannt wird und Minister, so dass es dann endlich los gehen kann. Diese Spielchen sind die Menschen jedenfalls satt.“

Der türkische Premier Erdogan gibt Mursi Rückendeckung, aber wie sieht das Ägyptische Volk selbst die Parlamentsauflösung?

„Man muss sich immer wieder die Zahlen vergegenwärtigen. Mursi ist mit einer knappen Mehrheit gewählt worden. Natürlich ist diese Mehrheit zu respektieren. Aber diejenigen, die ihn gewählt haben, stehen noch lange nicht alle auf der Seite von Muhammad Mursi. Das bedeutet also, dass es vielleicht ein Drittel aller Wähler sind, die sagen würden, er habe Recht, sich doch mehr als Präsident zu zeigen. Die anderen haben doch eher Ängste vor diesem Muslimbruder Mursi, dem viele von ihnen nicht vertrauen. Und die Äußerung, die dann von Erdogan kommt, oder auch, was beispielsweise bei seinem 18-Stunden-Besuch von Außenminister Westerwelle gesagt wurde, das macht die Menschen nicht sehr glücklich. Denn sie sagen: Was heißt hier Demokratie? Wir müssen
doch erst einmal unsere fundamentalen Notwendigkeiten erfüllt bekommen. Wir müssen sehen, dass wir einfach noch nicht demokratiefähig sind. 50 Prozent– ich muss es immer wieder sagen – der Ägypter sind Analphabeten. Mit denen kann man keine Demokratie nach europäischem Muster machen. Das brauch viel Zeit, aber ich denke, dass auch sehr genau hingeschaut werden muss, wie sich in Zukunft die Beziehungen der europäischen Staaten zu Ägypten entwickeln. Ich bin mir auch sicher, dass bei jedem Problem, das etwa die Freiheit der Christen anbelangt oder ihren Schutz, der Westen schon sehr genau hinschauen wird.“

Soweit Pfarrer Joachim Schroedel im Radio-Vatikan-Interview.

(rv/ansa 12.07.2012 cs)








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