Der im Jahre 1946
mit dem Literaturnobelpreis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete
Hermann Hesse ist weltweit der meistgelesene deutschsprachige Schriftsteller. Die
Gesamtauflage seines in nahezu 60 Sprachen übersetzten Werkes beträgt über 150 Millionen
Exemplare. Hermann Hesse gilt als „Autor der Krise“, der immer auf der Suche nach
der eigenen, der wirklichen Identität ist.
Hermann Hesse ist der Sohn
eines deutsch-baltischen Missionars und einer Missionarstochter mit schwäbisch-schweizerischer
Herkunft. 1877 geboren wuchs er im Schwarzwaldstädtchen Calw und Basel auf, wo der
Vater an Missionarsinstituten tätig war. Seine Kindheit war bestimmt durch religiöse
Zwänge und Erwartungen. Schon früh weckte das in ihm einen Hang zur Rebellion. Ständig
wechselte Hesse die Schulen. 1891 legte er das „Landexamen“ im evangelisch-theologischen
Klosterseminar Maulbronn ab. Nach wenigen Monaten flüchtete er aber von dort, weil
er „entweder Dichter oder gar nichts werden“ wollte. Nach einer Mechanikerlehre bei
der Calwer Turmuhrenfabrik erlernte Hesse den Beruf des Buchhändlers in Tübingen und
Basel und veröffentlichte seine ersten Schriften. Ab 1904 lebte er als freier Schriftsteller.
Etwa 3.000 Buchrezensionen hat er im Laufe seines Lebens für 60 verschiedene Zeitungen
und Zeitschriften verfasst. Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb er noch Erzählungen
und Gedichte, aber keinen Roman mehr. Er entdeckte die Malerei und die Gartenarbeit
für sich, und pflegte die Kunst der Korrespondenz. Hesse verstarb in der Nacht zum
9. August 1962 in Montagnola im Tessin im Schlaf an einem Gehirnschlag. Er wurde 85
Jahre alt.
Alle Werke Hesses enthalten eine stark autobiografische Komponente.
Sein Leben und dichterisches Werk ist geprägt durch eine ständige Auseinandersetzung
mit den Fragen der Religion und des Glaubens, die ihm praktisch in die Wiege gelegt
waren. Er wurde hineingeboren in eine protestantisch-pietistisch orientierte Familie
aus Missionaren, Predigern und Theologen. Außerdem kam Hesse aufgrund der Missionstätigkeit
von Vater und Großvater in Indien schon früh mit dem Hinduismus und dem Buddhismus
in Kontakt. Später auch mit dem chinesischen Taoismus. Hesse entwickelte die Idee
einer Synthese zwischen den Religionen auf der Basis einer universellen Mystik. Er
suchte nach der Einheit aller Menschen und glaubte an „eine Religion außerhalb, zwischen
und über den Konfessionen, die unzerstörbar ist“. Die Selbstverwirklichung und die
Selbstwerdung wurden das zentrale Thema seiner Schriften.
Für den Rundfunk
hat der öffentlichkeitsscheue Hermann Hesse nur eine einzige Erzählung, das 1913 entstandene
Märchen „Der Dichter“ gelesen. Es schildert den langen und entbehrungsreichen Weg,
den der chinesische Dichter Han Fook einschlagen muss, bis es ihm schließlich glückt,
die Kunst zu beherrschen, „scheinbar nur das Einfache und Schlichte zu sagen, damit
aber in des Zuhörers Seele zu wühlen, wie der Wind in einem Wasserspiegel”. Hören
wir dazu einen Ausschnitt. Es liest Hermann Hesse.
*
Soweit
– meine sehr verehrten Hörerinnen und Hörer – ein Auszug aus dem vom Autor Hermann
Hesse selbst gelesenem Prosatext „Der Dichter“. Ein wahrer Archiv-Fund. Damals war
Hermann Hesse 35 Jahre alt. Noch vier Jahrzehnte später hatte diese Geschichte vom
chinesischen Poeten Han Fook so wenig an Bedeutung für ihn verloren, dass er sie 1955
für eine Rundfunksendung auf Tonband sprach. Es ist seine früheste selbst gelesene
Erzählung, die uns als Tondokument überliefert ist. Sie zeigt Hesses Wahlverwandtschaft
mit den Kulturen Ostasiens und nimmt Motive aus späteren Dichtungen wie „Siddhartha“
und „Das Glasperlenspiel“ vorweg.
Dass der Dichter Hermann Hesse das
Schwierige einfach auszudrücken verstand, ist einer der vielfältigen Gründe für die
weltweite Wirkung seiner Werke. Das zeigt sich auch in den Jahreszeitengedichten,
welche das Lebensgefühl der Monate vom Frühling bis zum Herbst ebenso bildlich wie
musikalisch vergegenwärtigen.
Es liest wiederum Hermann Hesse
Bericht
des Schülers
Mein Lehrer liegt und schweigt schon manche Tage. Oft weiß
ich nicht, ob er mit Schmerzen ringe, Ob mit Gedanken. Wenn ich etwas sage, So
hört er nicht. Doch wenn ich sitz und singe, Lauscht er geschlossenen Auges wie
entrückt, Vielleicht ein Wissender des höchsten Grades, Vielleicht ein Kind,
von etwas Klang beglückt, Doch stets der Regel treu des Mittlern Pfades.
Zuweilen
regt er die erstarrte Hand, Als hielte sie den Schreibestift und schriebe. Dann
wieder ist der Türe zugewandt Sein Blick mit einer unsagbaren Liebe, Als hör
er Boten nahn auf Engelsflügeln Und sähe Himmelspforten offen stehn Oder auf
seiner fernen Heimat Hügeln Wie einst im Morgenhauch die Palmen wehn.
Oft
ist mir bang, als sei ich krank statt seiner, Als war ich selber grau, erloschen,
alt Und jener dünnen Blätterschatten einer, Wie sie der Morgen an die Mauer
malt. Doch er, der Meister, scheint von Wirklichkeit, Von Sein, von Wesen ganz
getränkt und trächtig. Indes ich schwinde, wird er weltenweit Und füllt die
Himmel strahlend und allmächtig.
Frühlingstag
Wind im Gesträuch
und Vogelpfiff Und hoch im höchsten süßen Blau Ein stilles, stolzes Wolkenschiff.
. . Ich träume von einer blonden Frau, Ich träume von meiner Jugendzeit, Der
hohe Himmel blau und weit Ist meiner Sehnsucht Wiege, Darin ich stillgesinnt
Und selig warm Mit leisem Summen liege, So wie in seiner Mutter Arm Ein
Kind.
Der Blütenzweig
Immer hin und wider Strebt der Blütenzweig
im Winde, Immer auf und nieder Strebt mein Herz gleich einem Kinde Zwischen
hellen, dunkeln Tagen, Zwischen Wollen und Entsagen. Bis die Blüten sind verweht
Und der Zweig in Früchten steht, Bis das Herz, der Kindheit satt, Seine
Ruhe hat Und bekennt: voll Lust und nicht vergebens War das unruhvolle Spiel
des Lebens.
Julikinder
Wir Kinder im Juli geboren Lieben
den Duft des weißen Jasmin, Wir wandern an blühenden Gärten hin, Still und in
schwere Träume verloren.
Unser Bruder ist der scharlachene Mohn, Der
brennt in flackernden roten Schauern Im Ährenfeld und auf den heißen Mauern, Dann
treibt seine Blätter der Wind davon.
Wie eine Julinacht will unser Leben Traumbeladen
seinen Reigen vollenden, Träumen und heissen Erntefesten ergeben, Kränze von
Ähren und rotem Mohn in den Händen.
September
Der Garten trauert,
kühl sinkt in die Blumen der Regen. Der Sommer schauert still seinem Ende entgegen. Golden
tropft Blatt um Blatt nieder vom hohen Akazienbaum. Sommer lächelt erstaunt und
matt in den sterbenden Gartentraum. Lange noch bei den Rosen bleibt er stehn, sehnt
sich nach Ruh, langsam tut er die müdgeword'nen Augen zu.
Es las Hermann
Hesse.
Verehrte Hörerinnen und Hörer – Wenn der Literaturnobelpreisträger
Hermann Hesse, dessen Originalstimme wir heute hörten, Bücher schrieb, dann warf er
die großen Fragen der menschlichen Existenz auf. Bis heute üben die Werke des vor
genau 50 Jahren verstorbenen Autors eine besondere Faszination auf Leser in aller
Welt aus. Wie gesagt, Hermann Hesse ist international der meistgelesene deutschsprachige
Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Die Gesamtauflage seiner in nahezu 60 Sprachen
übersetzten Werke liegt bei mehr als 150 Millionen Exemplaren.
Und zum
Abschluss noch sechsmal Hesse im Telegrammstil:
Siddhartha ist Hesses Auseinandersetzung
mit der indischen Philosophie und Religion. Die Erzählung über den indischen Brahmanensohn
trägt autobiografische Züge. – Der Steppenwolf schildert auf radikale Weise das Leben
des in sich zerrissenen Intellektuellen Harry Haller, eines Außenseiters um die 50,
und galt mit seiner komplexen Struktur als Erneuerung des Romans. – Unterm Rad handelt
vom Schicksal des begabten Schülers Hans Giebenrath, der in einem Dorf im Schwarzwald
lebt und dem Druck des Vaters und der Lehrer nicht standhalten kann. – Narziss und
Goldmund spielt im Mittelalter und erzählt vom Eintritt des jungen Goldmund ins Kloster
Mariabronn, wo er auf den sensiblen und intellektuellen Narziß trifft und Freundschaft
mit ihm schließt. – Das Glasperlenspiel schließlich, Hesses letztes großes Werk, erzählt
die Geschichte um Josef Knecht, den Meister des esoterischen Glasperlenspiels. Es
spielt in einer Zukunftswelt und wurde zu einem Kultbuch der 68er-Generation.