Ägypten: „Bedrohliche Stimmung auf dem Tahrir-Platz“
Der Wahlsieger in
Ägypten steht fest. Nach zusätzlichen Auszählungen und Prüfungen hat die Wahlkommission
am Sonntag das Ergebnis der historischen Präsidentenwahl bekannt gegeben. Der Muslimbruder
Mohammed Mursi hat mit einem hauchdünnen Vorsprung und bei einer extrem geringen Wahlbeteiligung
gegen seinen Kontrahenten Achmed Shafik gewonnen. Die Masse auf dem Tahrir-Platz,
die im Falle eines Wahlsieges durch Shafik Gewaltaktionen angekündigt hatte, hat nun
das Ergebnis mit Jubel begrüßt. Bischof Kyrillos William, der in den vergangenen Tagen
mehrfach bei uns im Gespräch war, hat dem neuen Präsidenten bereits seine herzlichen
Glückwünsche übermittelt und verleiht seiner Hoffnung Ausdruck, der „Zusammenhalt
der Nation möge der bleiben, der er auch in der Vergangenheit war“. Was bedeutet aber
dieses Ergebnis jetzt konkret für das Land, und insbesondere die christliche Minderheit?
Das wollten wir von Monsignore Schroedel, der die deutschsprachige Gemeinde in Kairo
leitet, wissen:
„Die Gesellschaft ist im Moment gespalten. Es überwiegt
wohl das allgemeine Gefühl der Zustimmung, dass man auf demokratische Weise einen
Präsidenten gewählt hat, aber die Verunsicherung auf christlicher Seite ist sehr groß.
Sie haben fürchterliche Angst, dass jetzt der Islamismus in diesem Land greift. Andererseits
hat Mursi eigentlich nur vielleicht sechs Millionen Stimmen hinter sich, denn viele
haben ihn ja gewählt, um sozusagen das kleinere Übel zu wählen. Wir werden jetzt sehen.
Mursi selbst ist ein recht schwacher Präsident, er ist kein geschliffener Redner -
regieren wird wohl jemand anders im Hintergrund. Man darf auch nicht vergessen, dass
der Militärrat letztlich durch die zwei Beschlüsse sehr deutlich gemacht hat, wer
die Macht im Lande hat.“
Ganz genau, der Präsident scheint ja auch sehr
wenige Machtbefugnisse zu bekommen, sobald die neue Verfassung mit den Aufgabenbereichen
des Präsidenten festgezurrt sein wird. Heißt das, dass das Militär Mursi eigentlich
für kontrollierbar hält und ihn auch deshalb durchgewunken hat?
„Das vermute
ich in der Tat. Die letzten Tage, als es hieß, es werde nochmals ausgezählt und kontrolliert,
dienten meiner Ansicht nach eher zu intensiven Gesprächen zwischen dem Militärrat
und den Muslimbrüdern. Da hat man wohl viele Kompromisse gefunden. Man muss ja auch
mal anders herum überlegen, was wäre gewesen, wenn Shafik zum Präsidenten erklärt
worden wäre? Es wäre wohl zu einem Blutbad gekommen. Die aufgeheizte Atmosphäre auf
dem Tahrir-Platz habe ich selbst mitbekommen, und ich war das erste Mal in meinem
Leben froh, als ich wieder vom Platz runter war. Ich habe den Platz noch nie so islamistisch
erlebt, da bekommt man dann doch Ängste. Das war bei der Revolution eine völlig andere
Situation. Es ist eine ambivalente Situation, natürlich müssen wir dem neuen Präsidenten
auch alle Chancen geben, er hat gestern auch wieder sehr positiv geklungen, aber wenn
man dem Ansatz der Muslimbrüder gegenüber kritisch ist, muss man natürlich sagen:
Vorsicht, da kann noch Schlimmes nachkommen.“
Ganz abgesehen davon, dass
die Muslimbrüder jetzt während ihrer Zeit im Parlament nicht unbedingt demokratisches
Erwachsensein demonstriert haben?
„Ganz richtig, sie haben ja auch keinerlei
Erfahrung in demokratischen Gepflogenheiten, von daher musste man viele Dinge mit
Schmunzeln zur Kenntnis nehmen. Aber das Problem ist jetzt meines Erachtens, sollte
die Staatengemeinschaft und vor allem Amerika darauf bestehen, dass der Militärrat
zurücktreten und alle Macht dem Staat übergeben sollte. In diesem Fall bitte keine
Lösung nach amerikanischem Demokratieverständnis. Das geht nicht, hier brauchen wir
noch die Macht des Militärs, die natürlich zu hinterfragen ist, aber im Moment gibt
es keine andere Lösung, sonst würde diese arabische Republik in zwei große Teile zerfallen
und ein Bürgerkrieg könnte die Folge sein.“
Als Beispiel wurde ja auch
immer wieder Tunesien genannt. Könnte Tunesien denn als Vorbild für Ägypten dienen?
„Das
sind ja immer wieder diese kleinen Länder. Wenn wir von sechs bis sieben oder meinetwegen
auch 15 Millionen Menschen in diesen arabischen Ländern Nordafrikas, dann ist das
etwas anderes, wenn Sie 80 Millionen Menschen haben mit einer Hauptstadt, die 25 Millionen
Einwohner hat. Das lässt sich auch in besten Zeiten nicht richtig lenken, wie sollte
es denn jetzt zu moderat islamischen Zuständen kommen? Hier muss noch viel mehr an
basisdemokratischer Arbeit geleistet werden. Viele Oppositionskandidaten und Politiker
klagen immer wieder ein, dass Demokratie erlernt werden muss. Es gibt auch viele Christen,
und auch moderate Muslime, die sagen, die Muslimbruderschaft kann ja gar nicht demokratisch
sein, weil es keinen demokratischen Islam gibt. Das ist ein Gegensatz, der eigentlich
nicht aufzulösen ist. Ein Muslimbruder ist ein strenger Islamist, der als letzters
Ziel den Gottesstaat hat. Das ist mit Demokratie, trotz aller Beteuerungen, nicht
zu vereinen.“
Es gibt ja noch die große Unbekannte der vielen Wahlberechtigten,
die nicht zur Wahl gegangen sind ...
„Ja, das ist schon wichtig, dass etwa
die Hälfte aller Ägypter, die wahlberechtigt waren, nicht zur Wahl gegangen sind.
Das heißt, etwa 25 Millionen Ägypter sind zur Wahl gegangen, und von diesen hat etwas
weniger als die Hälfte Shafik gewählt. Da ist ein potential dahinter, das wir noch
gar nicht verstehen. Außerdem gibt es etwa 50 Prozent Analphabeten, die in den Demokratisierungsprozess
eingebunden werden sollen, wenn sie es denn überhaupt wollen. Wie sich das entwickelt,
ist noch mit vielen Fragezeichen versehen.“