2012-06-24 10:19:25

Aktenzeichen: Johann Caspar Lavater – berühmt, umstritten, neu entdeckt


RealAudioMP3 Johann Caspar Lavater, reformierter Pfarrer, Philosoph und Schriftsteller des 18. Jahrhunderts wird meist nur in Verbindung mit seiner bekannten Physiognomik wahrgenommen, einer Lehre, nach der die Gesichtszüge eines Menschen dessen Charakter offenbaren. Dies vermag aber nicht sein ganzes Wirken abzubilden. Lavater war beseelt von der Aufbruchsstimmung seiner Zeit. Er übertrug die Ideale des Sturm und Drang auf die Theologie. Damit löste er den christlichen Glauben aus dem Korsett des dogmatischen Glaubens und der moralisierenden Frömmigkeit seiner Zeit. Er zeigt einen Weg, der von der Empfindsamkeit, der Selbstergründung und der Beobachtungsgabe des einzelnen Menschen genährt wird. Er war seinerzeit nicht nur in Zürich, sondern auf dem ganzen europäischen Kontinent bekannt, berühmt, geschätzt, aber auch kritisiert. Johann Caspar Lavater war eine außerordentliche Persönlichkeit. Seine Aura scheint die Menschen damals geradezu magisch angezogen zu haben: darunter Wieland, Klopstock, Herder, Goethe, Claudius, Rousseau, Pestalozzi. Weniger bekannt ist, dass Lavater 15 Jahre lang sozusagen ‘im Hauptberuf’ Pfarrer in der St. Peter-Kirche in Zürich war. Heute bekleidet Ueli Greminger, Pfarrer an der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde dieses Amt. Er hat jetzt ein Buch über seinen berühmten Vorgänger geschrieben, mit dem Titel: Johann Caspar Lavater – Berühmt, berüchtigt – neu entdeckt. Wir haben ihn ans Mikrophon von Radio Vatikan gebeten.


Herr Pfarrer Greminger, wem stand Johan Caspar Lavater am nächsten: der Wissenschaft, der Religion, der Sprache oder der Seelsorge – also dem Menschen?


„Johann Caspar Lavater war mit Leib und Seele Pfarrer. Er war eine feinsinniger Seelsorger, ein begnadeter Prediger. Von halb Europa strömten die Menschen in den St. Peter von Zürich. Gemäß Johann Wolfgang Goethe hatten seine Predigten eine so starke Ausstrahlung, weil er aus vollem Herzen sprach und seine Zuhörer in eine fremde Welt zu versetzen schien, indem er sie in die ihnen unbekannten Winkel ihres eigenen Herzens führte”.


Sie haben Lavater neu entdeckt, worin besteht das wirklich Neue?


„Lavater ist heute allgemein als Physiognomiker bekannt. Im Geheimen Tagebuch bin ich dem anderen Lavater, dem originellen Theologen begegnet.
Es beginnt so: ,Du aber, mein Herz, sey redlich! Verbirg deine Tiefen nicht vor mir! Ich will Freundschaft mit dir machen, und einen Bund mit dir aufrichten – Wisse, mein Herz, dass unter allen Freundschaften auf Erden keine weiser und segenreicher ist, als die Freundschaft und eines menschlichen Herzens mit sich selber!‘
Freundschaft mit sich selber. Wie wichtig ist dies auch heute noch für das Menschsein. Mit dieser und mit ähnlichen Vorstellungen formte Lavater die christliche Tradition so um, dass sie für die Menschen seiner Zeit seelische, gedankliche und moralische Nahrung blieb. Diese Vorgehensweise ist das eigentlich Besondere an Lavater!“


In was bestand das Faszinosum Lavaters, das die Intellektuellen halb Europas seiner Zeit, aber auch einfache Menschen, so sehr angezogen hat? Wie wurde er zur Kultfigur?


„Es begann mit einem Skandal. Lavater organisierte kaum 21 Jahre alt eine anonyme Flugblatt Aktion, darin er einen korrupten Landvogt anklagte. Der Bösewicht wurde entlarvt, entzog sich durch Flucht dem gerichtlichen Verfahren Goethe war begeistert, als er das Flugblatt las, und meinte, dass eine solche Tat gleich viel wie hundert Bücher gelte. Lavater wurde mit Voltaire verglichen, als dieser sich in Frankreich in der Affäre Calas als Einzelner mutig gegen das Unrecht zur Wehr setzte. Lavaters Gerechtigkeitsgefühl, seine Zivilcourage, seine Schaffenskraft, seine Fähigkeit, Kontakte zu allen nur möglichen Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten zu knüpfen, und seine Begabung, die Menschenkenntnis und die Menschenliebe miteinander zu verbinden, scheinen immens gewesen zu sein. So wurde er zur Kultfigur.”


Der Glaube ist nicht mit theologischen Begriffen zu erfassen, sondern im Vollzug der Imitatio Christi. Ein Grundsatz Johann Caspar Lavaters. Hat er konsequent nach diesem Leitsatz gelebt?


„Ja. Christliche Existenz bedeutete für Lavater, die Wahrheit aufdecken. Das bedeutet: Politisches Engagement. Der böse Tyrann wird demaskiert. Sein wahres Gesicht kommt zum Vorschein. Selbsterforschung. Im Geist der Aufklärung leitete Lavater die Menschen an, sich selbst zu erforschen, sich auf die eigenen Kräfte zu verlassen. Transzendieren: Lavater war es ganz wichtig, die Grenzen des rein rationalen Denkens zu übersteigen, um sich mit der göttlichen Wahrheit anzunähern. Beim Tagebuchschreiben übte Lavater täglich den Umgang mit sich selber, um auf diese Weise der inneren Wahrheit auf die Spur zu kommen.”


Nach Lavater ist Religion nichts als Genie. Wie ist das zu verstehen?


„Lavater übernahm den Begriff ,Genie‘ vom Bildungsideal des Sturm und Drang und übertrug ihn vom Gebiet der Literatur und der Kunst auf sein Gebiet, die Theologie. Genie wurde zum Schlüsselwort im Aufbruch aus der Enge der kirchlichen Rechtgläubigkeit, der moralisierenden Frömmigkeit und der Verstandespedanterie der Aufklärung.”


Zeit seines Lebens war Lavater auf der Suche nach dem Zauber der Sprache. Hat er ihn gefunden?


„Da bin ich mir nicht so sicher. Ich beschreibe in meinem Buch, wie Lavater in seiner Schrift ,Aussichten in die Ewigkeit‘ von einer Sprache des Himmels schwärmt. Wenn es den Himmel gibt, dann muss es doch schon hier auf Erden eine Sprache dafür geben, dass der Mensch die Wahrheit unmittelbar versteht und sich als Individuum verstanden fühlt. Wie schön, wenn dem so wäre!
In der Praxis, bei der Predigt, im Unterricht ,in der Seelsorge. Immer ging es Lavater darum, den Zauber der Sprache zu erzeugen und Raum für das Empfinden des Göttlichen zu schaffen, es zu verstehen und verständlich zu machen. Er wollte das Unbegreifliche begreifen, das Unfassbare erfassen, das Unsichtbare sichtbar machen, das Göttliche erfahren im Hier und Jetzt”.


Wie war das Verhältnis Lavaters – theologisch betrachtet – zur katholischen Kirche?


„Lavater war mit Leib und Seele Pfarrer im Geist der Reformation von Huldrych Zwingli. Aber er blieb nicht dabei. Er suchte den Nerv seiner Zeit: Es ist der Reichtum, das Wunderbare und das Geheimnis des einzelnen Menschen, das frei zur Entfaltung kommen soll. Lavater überschritt in seinem theologischen Denken andauernd Grenzen. Die Grenzen seiner Herkunft, des Pietismus, die Grenzen der Aufklärung, des dogmatischen Denkens. Und auch die Grenzen seiner Konfession. Er hatte eine Geist Kirche vor Augen – einen Ort, wo jeder auf seine Weise in der Nachfolge Christi steht. Geist Kirche kann überall sein – auch in der katholischen Kirche. Stellen Sie sich vor, das sagt der St. Peter Pfarrer im reformierten Zürich des 18.Jahrhunderts. Zitat: Nur der Satan will kriechende, genusslose Märtyrer. Religion ist ein geistiger Genuss unsichtbarer und ewiger Dinge völlige Nullitäten sind für mich, für meinen innern Menschen, für meine Religion, für meinen Gottesgenuss die Namen Zwingli, Calvin, Luther, Papst, Konzilium, reformiert, lutherisch, katholisch. Natürlich pflegte Lavater Kontakte zu Priestern und Bischöfen. Da hatte er keine Berührungsangst. Auch dafür wurde er von seiner Zunft heftig kritisiert.”


Über den Zeitgeist urteilte Lavater, es sei eine beinahe epidemische Krankheit des ‚unphilosophischen Jahrhunderts’, über dem Mittel den Zweck zu vergessen, oder das Mittel zum Zweck zu machen. Sehen Sie darin Parallelen zur heutigen Zeit?


„Ja – da zeigt sich die Aktualität von Lavater. Es ist wie wenn er damals bereits unser Jahrhundert beurteilt hätte. Ebenso aktuell ist seine theologische Antwort. Es geht darum: Ganz Mensch zu sein. Nicht irgendwann einmal nach dem Tod. Mitten im Leben. Von Angesicht zu Angesicht. Aber jeder Mensch als Individuum und auf seine Weise: Zitat ,Keiner soll des Andern ganzen Glauben, Jeder soll einen eigenen individuellen Glauben, wie ein eigenes Gesicht haben.‘”


Was spiegelt sich in der tiefen Freundschaft Lavaters mit Goethe?


„Die Freundschaft zwischen Lavater und Goethe zerbrach. Damit auch die Verbindung zwischen dem christlichen Glauben und dem Geist der Moderne. Es ist, wie wenn sich damals der liberale Weltgeist vom christlichen Glauben für immer emanzipiert hätte.
Das ist meine Vision: Kreative sollen freundschaftlich miteinander verbunden sein: Der weltoffene Glaube (Lavater) und der liberale Weltgeist (Goethe). Im Sinn einer Religiosität für das 21. Jahrhundert, da miteinander verwoben sind das Genie des Herzens (Lavater) und die Klarheit des Denkens (Goethe). Die christliche Religiosität als Seelenkraft und als kritisches Nachdenken, im Sinn des im Religiösen verankerten und gleichzeitig selbst bestimmten und weltoffenen Menschen.”


Wo ist Lavater gescheitert, wo hingegen hat er ein Vermächtnis hinterlassen?


„Lavater ist an seinem größten Erfolg, an seiner Physiognomik gescheitert, indem er aus ihr eine Wissenschaft machen wollte. Lavater ist auch daran gescheitert, dass er pausenlos geschrieben hat. Er hat seine Werke kaum überarbeitet. So verliert man sich in seinen Schriften. Sie werden kaum mehr gelesen. Sein Vermächtnis?
Habe ich in meinem Buch ,Johann Caspar Lavater – berühmt, berüchtigt, neu entdeckt‘ zusammengestellt. Drei Dinge sind es, mit denen Lavater das wunderbare, geheimnisvolle Reich des Individuums zu ergründen suchte: die Einbildungskraft, die Kunst der Freundschaft und die Gabe des Beobachtens. Mit diesem Bildungsideal ging Lavater daran, den einzelnen Menschen zu ergründen, zu befreien und zu seiner Bestimmung, zu sich selbst zu führen.“


Was bleibt von Lavater für das 21. Jahrhundert? Kann er auch heute noch als religiöse Leitfigur betrachtet werden?


„Ja – Lavater hat den Weg zu einem neuen Verständnis des christlichen Glaubens vorgezeichnet. Indem er das Bildungsideal seiner Zeit auf die Theologie übertrug, löste er den christlichen Glauben aus dem Korsett des dogmatischen Glaubens, der moralisierenden Frömmigkeit und des reinen Vernunftdenkens. Er bahnte den Weg zu einer individuellen Christlichkeit, die nicht von der Tradition, von Dogma und Moral genährt wird, sondern von der Empfindsamkeit des Individuums. Diese Empfindsamkeit nährt die Phantasie, ermöglicht die Freundschaft – auch die Freundschaft mit sich selber – und vertraut der Beobachtungsgabe des Einzelnen. Diese neue Art der Religiosität beschränkt sich nicht auf die Pflege einer individuellen Frömmigkeit, sondern sein Wesen findet im Aufdecken von Wahrheit im persönlichen, aber auch im öffentlichen Bereich. Die Lebensgeschichte von Lavater zeigt, dass damit sowohl Zivilcourage im Bereich des öffentlichen Lebens in Kirche und Staat als auch das kritische Hinterfragen von Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit gemeint ist.”


Herr Greminger, vielen Dank für Ihre ausführlichen Einschätzungen zu Johann Caspar Lavater.


Nachwort:
Johann Caspar Lavater wurde bei den Unruhen in Zürich von einem betrunkenen französischen Soldaten durch einen Schuss in die Brust schwer verletzt. Nach schweren Leiden erlag er nach einem Jahr an den Folgen der Verletzung. Es war der 2. Januar 1801. Lavater war 60 Jahre alt. Von seinem Schwiegersohn, Georg Gessner, wird überliefert, dass er im Todeskampf immer noch für den betete, der ihn tödlich verwundet hatte.

(rv 24.06.2012 ap)









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