Wirtschaftskrise in Europa: „Es geht nicht mit gerechten Dingen zu“
Die kommenden drei
Monate werden für Europa entscheidend sein. Das sagt die Wiener Sozialethikerin Ingeborg
Gabriel im Gespräch mit Radio Vatikan. Irland hat sich vor wenigen Tagen in einem
Referendum für den Fiskalpakt entschieden, in Griechenland steht mit den Parlamentswahlen
am 16. Juni eine Entscheidung über die Zukunft noch aus.
Begonnen habe die
gegenwärtige Krise schon vor vier Jahren, so die Direktorin der Kommission Iustitia
et Pax der Österreichischen Bischofskonferenz. Mit der Rettung der Banken seien die
Haushaltsdefizite der Staaten in die Höhe getrieben worden, aber auch schon zuvor
habe die Klientelpolitik immer wieder Schulden zur Folge gehabt. Die Bankenrettung
habe diese dann so in die Höhe getrieben, dass sie bedrohlich wurden. Jetzt stehe
man in dem Konflikt zwischen einer Politik, die auf Wachstum aus sei – in den Medien
verbunden mit dem Namen des französischen Präsidenten Hollande – und der Sparpolitik,
für die vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel eintrete.
„Das ist die große
Frage, vor der wir stehen: Wie ist die Balance zu gestalten zwischen dem notwendigen
Sparen, der Wachstumsstimulation und der politischen und finanziellen Integration
Europas? Wobei ich glaube, dass sich die Positionen annähern, aber ob das schnell
genug geht, das ist die große Frage.“
Dafür, dass sich in Griechenland
eine vernünftige Politik durchsetze, stünden die Chancen nicht gut, so Gabriel.
„Das
ist ebenfalls eine allgemeine und ziemlich bedrohliche Tendenz: Dass Populisten überall
im Aufwind sind. Das gilt besonders auch für Griechenland, aus einer gewissen Situation
der Hoffnungslosigkeit, der Orientierungslosigkeit und auch der Wut der Bevölkerung
heraus.“
Sozialausgaben wurden über Monate nicht ausgezahlt, es treffe
vor allem die Armen, außerdem sei die Arbeitslosigkeit stark gestiegen. Die viel diskutierte
Alternative sei aber auch nicht erstrebenswert: Ein Ausscheiden aus dem Euro-Raum,
das Griechenland, dann aber auch in der Folge andere Länder betreffen könnte, würde
nach Expertenmeinung erst zu einem finanziellen und dann zu einem wirtschaftlichen
Zusammenbruch führen, ein Szenario, dass sich niemandem wünschen könne, so Gabriel.
„Das
Groteske daran ist, dass Europa ja sehr reich ist und wir alle sehr reich sind. Mir
fällt da ein Wort aus dem Evangelium ein, wo Johannes der Täufer sagt ‚Wer zwei Röcke
hat, der gebe einen dem der keinen hat.’ Die meisten von uns haben mehr als zwei Röcke,
und insofern glaube ich, dass das Stichwort der Solidarität nicht nur ein politisches
und wirtschaftliches, sondern auch ein humanes und christliches Stichwort ist.“
Am
vergangenen Wochenende hatte Papst Benedikt XVI. Familienpartnerschaften ins Spiel
gebracht: Wohlhabende Familien übernehmen ganz konkret Verantwortung für Familien
in Ländern, denen es wirtschaftlich schlecht geht.
„Das ist sicherlich eine
wunderbare Idee, die man auch kirchlich gleich umzusetzen versuchen sollte, ich werde
das gleich in der Iustitia et Pax Kommission sagen. Das ist die zivilgesellschaftliche
und christliche Ebene, und alle Programme, die auf dieser Ebene initiiert werden,
haben ja nicht nur einen konkreten armutslindernden Effekt, sondern sie können auch
den gefährlichen Renationalisierungstendenzen entgegenwirken. Das kann aber
natürlich nicht Regelungen im Finanzbereich und im politischen Bereich ersetzen. Man
muss alle diese Ebenen zugleich bedienen und nicht eine gegen die andere ausspielen.“
Gefragt
nach den Anliegen, die sie mit dieser Perspektive der Politik nennen würde, sieht
die Sozialethikerin Gabriel drei Kategorien:
„Eine Kategorie ist die der
Solidarität. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass auch politische Entscheidungen
aus ganz tiefen menschlichen Grundhaltungen heraus fallen und dass eine politische
Ordnung nur dann Bestand haben kann, wenn sie von moralischen Prinzipien getragen
ist. Das Zweite ist, dass gegenwärtig ein weitverbreitetes Gefühl besteht,
dass es nicht mit gerechten Dingen zugeht. Menschen in politischen Organisationen
sind zutiefst darauf angewiesen, dass sie das Gefühl haben, dass es gerecht zugeht.
Das ist so lange gut gegangen, wie eine kleine Gruppe immer größere Vermögen angehäuft
hat und die anderen nicht davon betroffen waren. Doch das hat sich gegenwärtig mehr
und mehr verschoben. Die dritte Frage ist die, wie wir mit den Ärmsten und
den Randgruppen in der Gesellschaft umgehen. Können wir denen gegenüber die Solidarität
– um das Wort noch einmal zu verwenden – aufbringen, die ihnen wirklich ein menschenwürdiges
Leben erlaubt?“
Ingeborg Gabriel wünscht sich mehr Beteiligung an der öffentlichen
Debatte auch von kirchlicher Seite, gerade die Kategorie der Solidarität dürfe nicht
zugunsten wirtschaftlicher Überlegungen an den Rand gedrängt werden.