2012-05-27 10:33:53

„Nicht länger ins eigene Ich eingeschlossen sein“: Die Pfingstpredigt des Papstes


Liebe Brüder und Schwestern!
Ich freue mich, mit Euch diese heilige Messe zu feiern, die heute auch vom Chor der „Akademie Santa Cecilia“ und dem Jugendorchester begleitet wird. Ich danke dafür!

Heute ist Pfingsten; dieses Geheimnis bedeutet die Taufe der Kirche, es ist ein Ereignis, das ihr sozusagen die ursprüngliche Form gegeben hat und den Anstoß zu ihrer Mission. Und diese „Form“ und dieser „Anstoß“ bleiben gültig, bleiben aktuell und erneuern sich vor allem in der Liturgie.

Ich möchte heute morgen vor allem über einen wesentlichen Aspekt des Pfingstgeheimnisses sprechen, das bis in unsere Tage von großer Bedeutung ist. Pfingsten ist das Fest der Einheit, des Verständnisses und der Gemeinschaft unter den Menschen. Wir können alle feststellen, wie in unserer Welt – trotz der wachsenden Nähe, die uns die Entwicklung der Medien erlaubt, und auch wenn die geografischen Entfernungen zu schrumpfen scheinen – das Verständnis und die Gemeinschaft unter den Menschen oft oberflächlich und schwierig ist. Ungleichgewichte bestehen weiter, die nicht zufällig zu Konflikten führen; das Gespräch zwischen den Generationen wird mühsam, und manchmal nimmt der Streit überhand; wir erleben im Alltag Dinge, die uns den Eindruck vermitteln, als ob die Menschen aggressiver und streitsüchtiger würden; es sieht fast so aus, als wäre es zu anstrengend, sich um Verständigung zu bemühen, und als sollte man sich besser an sein eigenes Ich, an seine eigenen Interessen halten. Wie können wir in einer solchen Lage denn diese Einheit finden und dann leben, die wir so sehr brauchen?

Die Pfingsterzählung in der Apostelgeschichte, die wir in der Ersten Lesung gehört haben (Apg 2,1-11), bezieht sich auf eines der großen Fresken, das wir am Anfang des Alten Testaments vorfinden: Auf die alte Geschichte vom Turmbau zu Babel nämlich (Gen 11,1-9). Aber was ist Babel? Es ist die Beschreibung eines Reiches, in dem die Menschen soviel Macht konzentriert haben, dass sie auf den Gedanken verfallen, sie bräuchten keinen Bezug mehr zu einem fernen Gott, sie wären schon stark genug, um ganz allein einen Weg zum Himmel zu bauen, um seine Tore aufzustoßen und sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen. Doch ausgerechnet in dieser Lage passiert etwas Seltsames und Einzigartiges: Während die Menschen gemeinsam an ihrem Turm bauen, merken sie auf einmal, dass sie ihn nicht mit-, sondern gegeneinander bauen. Während sie versuchen, wie Gott zu sein, laufen sie Gefahr, in Wirklichkeit nicht einmal mehr Menschen zu sein, weil ihnen etwas Wesentliches vom menschlichen Wesen verlorengegangen ist: die Fähigkeit, sich untereinander abzusprechen, sich zu verstehen, zusammenzuarbeiten.

Diese biblische Erzählung enthält eine ewige Wahrheit; wir können das an allen Epochen der Geschichten ablesen, aber auch an unserer eigenen Welt. Mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt sind wir in die Lage versetzt worden, Kräfte der Natur zu beherrschen, die Elemente zu manipulieren, lebendige Wesen – ja sogar nahezu Menschen selbst – herzustellen. In dieser Lage scheint es etwas Überholtes, Unnützes, zu Gott zu beten, denn wir können doch selbst alles bauen und realisieren, was wir wollen! Dabei machen wir uns nicht klar, dass wir die alte Erfahrung von Babel neu erleben.

Es stimmt schon, wir haben die Möglichkeiten multipliziert, untereinander zu kommunizieren, an Informationen heranzukommen, Nachrichten zu übermitteln – aber können wir behaupten, dass auch unsere Fähigkeit gewachsen wäre, uns zu verstehen? Oder ist es, paradoxerweise, nicht eher so, dass wir uns immer weniger untereinander verstehen? Herrscht unter den Menschen nicht eher Misstrauen, Verdacht, Furcht vor dem anderen, so dass sie sich gegenseitig geradezu gefährlich werden? Kommen wir also zu unserer Ausgangsfrage zurück: Kann es wirklich Einheit, Eintracht geben? Und wenn ja – wie denn?

Die Antwort auf diese Frage finden wir in der Heiligen Schrift: Einheit kann es nur geben durch das Geschenk des Geistes Gottes, der uns ein neues Herz geben wird und eine neue Zunge, eine neue Fähigkeit zu kommunizieren. Das ist es, was an Pfingsten geschehen ist. An diesem Morgen fünfzig Tage nach dem Osterfest brauste ein heftiger Wind über Jerusalem, und die Flamme des Heiligen Geistes kam auf die versammelten Jünger herab, ließ sich auf jedem von ihnen nieder und entzündete in ihnen das göttliche Feuer – ein Feuer der Liebe, das fähig ist zur Verwandlung. Die Angst verschwand, das Herz fühlte eine neue Kraft, die Zungen lösten sich und begannen, offen zu reden, so dass alle die Verkündigung von Jesus Christus, dem Toten und wieder Auferstandenen, verstehen konnten. Wo zuvor Spaltung und Fremdeln war, da sind an Pfingsten Einheit und Verstehen aufgekommen.

Aber schauen wir auch auf das Evangelium von heute. Dort sagt Jesus: „Wenn er kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit einführen” (Joh 16,13). Während er vom Heiligen Geist spricht, erklärt uns Jesus hier, was die Kirche ist und wie sie leben sollte, um sie selbst zu sein: um der Ort der Einheit und der Gemeinschaft in der Wahrheit zu sein.

Er sagt uns: Als Christen handeln, heißt, nicht länger ins eigene Ich eingeschlossen zu sein, sondern sich auf das Ganze auszurichten. Es heißt, die ganze Kirche in sich selbst aufzunehmen bzw., besser noch, es zuzulassen, dass sie uns in sich aufnimmt.

Wenn ich also als Christ spreche, denke, handle, dann tue ich es nicht durch Verschließen in mein eigenes Ich, sondern ich tue es immer im Ganzen und vom Ganzen ausgehend: So kann der Heilige Geist, der Geist der Einheit und der Wahrheit, weitertönen in den Herzen und Köpfen der Menschen und sie dazu bewegen, anderen zu begegnen und sich gegenseitig aufzunehmen. Gerade indem er so handelt, führt uns der Geist in die ganze Wahrheit ein, die Jesus ist – er führt uns dazu, sie zu vertiefen und zu verstehen: Wir nehmen nicht an Kenntnis zu, wenn wir uns in unser Ich einigeln, sondern nur, wenn wir fähig werden, zuzuhören und mit anderen zu teilen; nur im „Wir“ der Kirche und mit einer Haltung tiefer innerer Demut. Und so wird dann auch klarer, warum Babel Babel ist und Pfingsten Pfingsten ist. Wo die Menschen sich zu Göttern aufschwingen, da können sie sich nur einer gegen den anderen stellen. Wo sie sich hingegen in die Wahrheit des Herrn stellen, da öffnen sie sich für das Wirken seines Geistes, der sie unterstützt und zusammenführt.

Der Gegensatz Babel-Pfingsten findet auch in der Zweiten Lesung ein Echo, wenn der Apostel Paulus sagt: „Lasst euch vom Geist leiten, dann werdet ihr das Begehren des Fleisches nicht erfüllen“ (Gal 5,16). Der heilige Paulus erklärt uns, dass unser persönliches Leben von einem inneren Konflikt bestimmt ist, von einem Hin-und-Her-Gerissensein – zwischen den Wünschen des Fleisches und denen des Geistes. Und wir können nicht allen beiden Folge leisten. Wir können ja nicht gleichzeitig Egoisten sein und großzügig, gleichzeitig der Tendenz des Herrschens über andere folgen und die Freude fühlen, uneigennützig zu dienen. Wir müssen immer wählen, welchem Anstoß wir folgen wollen – und wir können es nur mit der Hilfe des Geistes Christi wirklich tun. Der heilige Paulus listet die Werke des Fleisches auf: Es sind die Sünden des Egoismus und der Gewalt, etwa Feindseligkeit, Zwietracht, Eifersucht, Uneinigkeit; es sind Gedanken und Taten, die die einen nicht wirklich auf menschliche und christliche Weise leben lassen, nämlich in der Liebe.

Es ist eine Richtung, die einen dazu führt, sein Leben zu verlieren. Der Heilige Geist dagegen führt uns zu den Höhen Gottes, damit wir schon auf dieser Erde im Keim das göttliche Leben leben können, das in uns ist. Dementsprechend bekräftigt der heilige Paulus ja: „Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Friede“ (Gal 5,22). Wir bemerken da, dass der Apostel den Plural nutzt, um die Werke des Fleisches zu beschreiben, die zum Sichverlieren des Menschen führen, während er den Singular benutzt, um das Wirken des Geistes zu beschreiben – er spricht von der „Frucht“, genau so, wie der Zerstreuung von Babel die Einheit durch Pfingsten entgegensteht.

Liebe Freunde, wir müssen dem Geist der Einheit und der Wahrheit entsprechend leben, und darum beten wir darum, dass der Geist uns erleuchte und führe: damit wir nicht mehr fasziniert unseren eigenen Wahrheiten folgen, sondern die Wahrheit Christi aufnehmen, die von der Kirche weitergetragen wird. Die lukanische Fassung der Pfingsterzählung sagt uns, dass Jesus vor seiner Auffahrt zum Himmel die Apostel bittet, zusammenzubleiben und sich auf die Gabe des Heiligen Geistes vorzubereiten. Und so kamen sie im Gebet mit Maria im Abendmahlssaal zusammen, um auf das versprochene Ereignis zu warten (vgl. Apg 1,14). Vereint mit Maria betet die Kirche wie im Moment ihrer Geburt auch heute: Veni Sancte Spiritus! Komm, Heiliger Geist, erfülle die Herzen deiner Gläubigen, und entzünde in ihnen das Feuer deiner Liebe!

Amen.


(Arbeitsübersetzung von Radio Vatikan nach dem italienischen Original)
(rv 27.05.2012 sk)








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