Ägypten wählt einen
neuen Präsidenten: Vor den Wahllokalen bildeten sich seit den frühen Morgenstunden
an diesem Mittwoch lange Schlangen; über fünfzig Millionen Ägypter können ihre Stimme
für einen von zwölf Kandidaten abgeben; die Stichwahl ist für Juni angesetzt. Ministerpräsident
Kamal el-Ganzuri spricht jetzt schon von einer „beispiellosen Wahlbeteiligung“. Am
Mittwoch Abend mussten wegen des großen Andrangs viele Stimmlokale länger als vorgesehen
geöffnet bleiben. Als Favoriten unter den säkularen Bewerbern gelten der ehemalige
ägyptische Außenminister Amre Mussa und Ex-Ministerpräsident Ahmed Schafik. Ebenfalls
gute Chancen werden dem von den Salafisten unterstützten Abdel Moneim Abdul Futuh
sowie dem Muslimbruder Mohammed Mursi eingeräumt. Nach letzten Umfragen wird jedoch
kein Kandidat auf Anhieb die absolute Mehrheit erreichen. 45 Prozent der Wähler
sind überhaupt bis zuletzt unentschlossen, welchem Kandidaten sie ihre Stimme geben
sollten. Am Freitag werden die vorläufigen Ergebnisse der ersten Wahlrunde erwartet,
sicher ist, dass die Militärjunta versprochen hat, die Macht am Ende des kommenden
Monats an den Wahlsieger abzugeben. Im Münchener Kirchenradio verleiht Pfarrer Joachim
Schroedel, der der Gemeinde in Kairo vorsteht, seiner Sorge darüber Ausdruck, dass
die Machtübergabe nicht völlig reibungslos vonstattengehen könnte.
„Das
Militär hat mehrfach erklärt, dass Ende des nächsten Monats die Übergabe der Macht
erfolgen würde. Ich bezweifele das sehr, vor allem wenn das Volk einen Präsidenten
wählen würde, der zu stark polarisieren wird, vor allem wenn er zu islamisch/islamistisch
wäre. Das will das Militär nicht, das ganz eigene Interessen hat. Das Militär ist
vor allem eine gesellschaftliche Größe, die nicht zu unterschätzen ist, auch als wichtiger
Wirtschaftsfaktor. Es wird wohl wieder auf eine gewisse Parallelgesellschaft hinauslaufen,
in der es demokratische/pseudodemokratische Strukturen gibt, es wird den Präsidenten
geben, da wir als Ägypter doch immer einen Vater brauchen, aber es wird immer daneben
das Militär geben. Von einem General habe ich vor ein paar Monaten gehört, dass das
Militär die Demokratie beschütze, was natürlich für uns Europäer kaum nachvollziehbar
ist und eigentlich ein Gegensatz wäre.“
Dabei sei es überhaupt fraglich,
wie friedlich und transparent die Wahlen letztlich ablaufen würden, so Pfarrer Schroedel
weiter:
„Friedlich und transparent sind zwei Begriffe, die normalerweise
nicht zum Sprachgebrauch eines Ägypters gehören, denn Ägypter sind sehr heißblütig
und es kommt leider sehr leicht zu Auseinandersetzungen. Das ist nun einmal so, das
gehört zum Wesen eines Ägypters dazu. Ich hoffe und bete darum, dass es friedlich
abgeht.“
Die Rose der Kandidaten ist bunt, es haben sich sowohl Exponenten
des ehemaligen Mubarakregimes zur Wahl gestellt, als auch die demokratisch unerfahrenen
und vor allem auf der polemischen Schiene erfolgreichen Muslimbrüder. Sowohl bei Amr
Moussa als auch bei Ahmed Shafik handelt es sich um Kandidaten, die mit dem alten
Regime eng verbunden sind, und das bringe die Ägypter bei der Wahlentscheidung in
eine Art Zwickmühle, so Pfarrer Schroedel:
„Einerseits sind das natürlich
erfahrene Staatsmänner, vor allem Moussa, der mit sehr geschickten Methoden Außenminister
des Regimes war. Shafik hingegen war der letzte Premierminister unter Mubarak, er
ist allerdings auch Militär, und darum geht es wohl auch, dass das Militär doch immer
noch die Kontrolle behält. Die anderen beiden, Abdel Fotouh und Mohamed Morsi, sind
dem islamistischen Lager zuzurechnen, und hier ist es interessant, dass man in den
letzten Wochen eine Verschiebung beobachten konnte. Viele, die die Muslimbrüder ins
Parlament gewählt haben sind jetzt enttäuscht von den islamistisch orientieren Parlamentariern,
weil sie letztlich keine Ahnung haben, wie ein Staat zu regieren ist. Vielfach sehen
jetzt vor allem die Städter und gebildeten Ägypter ein, dass sie einen erfahrenen
und älteren Staatsmann brauchen, der sozusagen wie ein Vater die Ägypter jenseits
von Religion eint. Wir können anhand dieser 45 Prozent Unentschlossenen sehen, dass
wir vielleicht eine Überraschung zum Positiven, oder, was ich nicht hoffe, zum Negativen
erleben werden.“