2012-05-20 16:02:51

Aktenzeichen: Johann Gottlieb Fichte – zum 250. Geburtstag


RealAudioMP3 Es war ein Sonntag um das Jahr 1770, der genaue Zeitpunkt ist nicht bekannt, als sich ein in der Oberlausitz ansässiger Edelmann, Baron von Miltitz, bei einem Gutsnachbarn verplauderte. Ein Aufenthalt unterwegs und das Gespräch mit dem Freunde hatten den Freiherrn, der ein frommer Sohn der Kirche war, daran gehindert, den Gottesdienst zu besuchen — und eine Predigt zu versäumen. Das war nicht seine Art. Aber der Gutsherr beruhigte ihn: Wenn es nur das sei, könne man Abhilfe schaffen. Der Hütejunge des Dorfes habe schon mehr als einmal bewiesen, dass er in der Lage sei, die Sätze des Herrn Pfarrers Wort für Wort zu wiederholen. „Gut, mein Freund, dann bringen Sie ihn.“ Der Gänsebub wurde zitiert, machte seine Aufwartung und artikulierte — kaum dass ihm der Baron sein Verlangen mitgeteilt hatte — den Predigttext in einer Weise, die den Freiherrn davon überzeugte: Dieser Junge hat nicht nur den Wortlaut, sondern auch den Sinn der geistlichen Ermahnung erfasst „Ich will dafür sorgen“, sagte der Baron, „dass du auf die Fürstenschule kommst, nach Schulpforta, dort gehörst du hin. Und nun sag deinen Namen. Der Gänsebub, Sohn eines Bandwirkers aus Rammenau, antwortete: „Mein Name, Euer Ehren? Johann Gottlieb Fichte.“ Die Geschichte ist gut verbürgt; Ernst Bloch hat ihr den Charakter einer Parabel verliehen, einer Moralität, die sich beim ersten Hören heiter und beim zweiten tief traurig ausnimmt: Hätte der Baron sich nicht verspätet — was wäre aus Fichte geworden?

Fichte war das erste von acht Kindern des Bandwebers Christian Fichte und seiner Frau Dorothea in Rammenau in der Oberlausitz. Er wuchs ärmlich in einem von Frondiensten geprägten dörflichen Milieu auf. Nach seiner Schulzeit zog Fichte 1780 nach Jena, wo er an der Universität ein Theologie-Studium begann, wechselte jedoch bereits ein Jahr später den Studienort nach Leipzig: Die Familie von Miltitz unterstützte ihn nun nach dem Tode des Barons nicht mehr finanziell, er war gezwungen, sich durch Nachhilfeunterricht und Hauslehrerstellen zu finanzieren und brachte das Studium zu keinem Abschluss. In dieser aussichtslosen Lage bekam er 1788 eine Stelle als Hauslehrer, die er aber nur zwei Jahre innehatte, da er der Auffassung war, dass man, bevor man Kinder erzieht, zuallererst die Eltern erziehen müsse. Dort verlobte er sich mit Johanna Rahn, der Tochter eines Kaufmanns und eine Nichte Klopstocks. 1790 zurück in Leipzig lernte Fichte die Philosophie Immanuel Kants kennen, die ihn stark beeindruckte. Ein Jahr später besuchte er, nach einem kurzen Intermezzo auf einer Hauslehrerstelle in Warschau Kant in Königsberg, wo dieser ihm einen Verleger für seine Schrift Versuch einer Kritik aller Offenbarung verschaffte, die anonym veröffentlicht wurde. Das Buch galt zunächst als ein lange erwartetes religionsphilosophisches Werk von Kant selbst. Als Kant den Irrtum klarstellte, war Fichte mit einem Schlag berühmt und erhielt einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Jena. Zuvor hatte er nach längerer Überlegung, ob eine Eheschließung ihm nicht die „Flügel abschneide“, Johanna Rahn geheiratet. Während seiner Jenaer Professur wurde er zur Zielscheibe im so genannten „Atheismusstreit”. Fichte wurde wegen Verbreitung atheistischer Ideen und Gottlosigkeit verklagt und zum Rücktritt gezwungen. 1805 bekam er den Lehrstuhl für Philosophie in Erlangen. Wenige Jahre darauf, 1810, bekam er die Position des Dekan der philosophischen Fakultät und für kurze Zeit war er der erste gewählte Rektor der Berliner Universität. Hatte sich Fichte zuvor als Anhänger der Französischen Revolution bezeichnet, so profilierte er sich nun insbesondere durch die flammend patriotischen Reden an die deutsche Nation als Gegner Napoleons .1813 erkrankte seine Frau Johanna am so genannten Lazarettfieber, welches sie sich bei der Pflege von Kriegsverwundeten zugezogen hatte. Auch Fichte sollte daran erkranken und konnte sich von diesem Fieber nicht mehr erholen. Er starb am 29. Januar 1814 in Berlin. Er war 51 Jahre alt.

Während Kant von der Existenz Gottes ausging und seine These untermauerte, die Existenz Gottes sei notwendig im Hinblick auf die Bedingungen der Möglichkeit sittlichen Handelns, sah Fichte nur die Notwendigkeit zu einer „moralischen Weltordnung“. Diese müsse nicht zwingend auf eine höhere Instanz – also Gott – zurückgeführt werden. Die aktive Weltordnung selbst („ordo ordinans“) könne man als Gott bezeichnen. Wer dies aber tut, der „verkennt die unmittelbare Beziehung des Gottesbegriffs zum moralischen Bewusstsein“ und ist, so Fichte, der wahre Götzendiener und Atheist.“

Verehrte Hörerinnen und Hörer, es folgt nun ein fiktives Interview mit Johann Gottlieb Fichte, geführt an einem Nachmittag im Mai des Jahres 1810 in der Halle 2 an der heutigen Berliner Humboldt-Universität.

Johann Gottlieb Fichte, man sagt, Sie seien der Meinung, den Philosophen Immanuel Kant als einziger wirklich verstanden zu haben. Wie kommen sie zu dieser anspruchsvollen Selbsteinschätzung?

„Kein einziger unter seinen zahlreichen Nachfolgern hat bemerkt, wovon bei Kant eigentlich geredet wird. Ich meine, das begriffen zu haben und entschloss mich, mein Leben einer von Kant ganz unabhängigen Darstellung jener großen Entdeckung zu widmen. Ob es mir besser gelingen wird, mich meinem Zeitalter verständlich zu machen, wird die Zeit lehren.“

Und worin besteht Ihre Lehre?

„Sie enthält dieselbe Ansicht der Sache, ist aber in ihrem Verfahren ganz unabhängig von der Kantischen Darstellung.“

Und worum geht es?

„Merke auf dich selbst. Kehre deinen Blick von allem, was sich umgibt, ab, und in dein Inneres - dies ist die erste Forderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling tut. Es ist von nichts, was außer dir ist, die Rede, sondern lediglich von dir selbst.“

Schon Kant nannte, etliche Jahre vor Ihnen in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ die Selbsterkenntnis als das erste Gebot aller Pflichten.

„Ich habe von jeher gesagt, und sage es hier wieder, dass mein System kein anderes sei als das Kantische. Es ist eine des Nachdenkens würdige Frage: welches ist der Grund des Systems der vom Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen, und dieses Gefühls der Notwendigkeit selbst?“

Ich verstehe die Frage so: Wir nehmen etwas gefühlsmäßig oder mit unseren Sinnen wahr und machen uns dazu unsere Vorstellungen. Dieses System von Gefühl und Vorstellung möchten Sie klären?

„Diese Frage zu beantworten ist die Aufgabe der Philosophie. Man nennt dieses System auch die Erfahrung – innere Erfahrung wie auch äußere Erfahrung.“

Die Philosophie hat demnach, mit andern Worten, die Aufgabe, sich mit dem Grund aller Erfahrung zu befassen?

„Richtig. Das Objekt der Philosophie, der Grund aller Erfahrung, liegt also notwendigerweise außerhalb aller Erfahrung. Dieser Satz gilt für alle Philosophie.“

Außerhalb aller Erfahrung?

„Ja, das endliche Vernunftwesen hat nichts außer der Erfahrung. Diese ist es, die den ganzen Stoff seines Denkens enthält. Der Philosoph steht notwendig unter den gleichen Bedingungen. Es scheint sonach unbegreiflich, wie er sich über die Erfahrung erheben könnte. Aber er kann abstrahieren, das heißt: das in der Erfahrung verbundene durch Freiheit des Denkens trennen. In der Erfahrung ist das Ding, dasjenige, welches unabhängig von unserer Freiheit bestimmt sein und wonach unsere Erkenntnis sich richten soll, und die Intelligenz, welche erkennen soll, unzertrennlich verbunden.“

Die Erfahrung setzt sich also zusammen einerseits aus den Dingen, die unsere Erkenntnis bestimmen und anderseits aus der Intelligenz oder dem Verstand als Fähigkeit zu erkennen? Die Erfahrung wird demnach bestimmt sowohl durch die wahrgenommenen Dinge als auch durch unseren Verstand - so habe ich es, glaub' ich verstanden?

„Der Philosoph kann von einem von beiden abstrahieren, und er hat dann von der Erfahrung abstrahiert und über dieselbe sich erhoben.“

Er kann also von der Erfahrung die Dinge ausklammern, dann bleibt nur die Intelligenz, das Denken, der Verstand oder aber er kann von der Erfahrung den Verstand ausklammern, dann bleiben ihm die Dinge an sich?

„Abstrahiert er von dem ersteren, so behält er eine Intelligenz an sich, das heißt: abstrahiert von ihrem Verhältnis zur Erfahrung. Abstrahiert er von dem letzteren, so behält er ein Ding an sich.“

Die Intelligenz an sich. Das erinnert an Kants „reine Vernunft“, das heißt Vernunft, die „rein“, also unabhängig ist von allen Erfahrungen?

„Dieses Verfahren heißt Idealismus, das andere Dogmatismus. Der Dogmatismus ist gänzlich unfähig zu erklären, was er zu erklären hat, und dies entscheidet über seine Untauglichkeit. Er kann sein Prinzip nur wiederholen und unter verschiedenen Gestalten wiederholen, es sagen und immer wieder sagen. Aber er kann von ihm aus nicht zu dem zu Erklärenden übergehen und es ableiten. In dieser Ableitung aber besteht eben die Philosophie. Der Dogmatismus ist sonach, auch von Seiten der Spekulation angesehen, gar keine Philosophie, sondern nur eine ohnmächtige Behauptung und Versicherung. Als einzig-mögliche Philosophie bleibt der Idealismus übrig. Der Idealismus erklärt die Bestimmungen des Bewusstseins aus dem Handeln der Intelligenz. Die Intelligenz lässt sich nur als tätig denken.“

Wenn wir jetzt den Ausdruck „Handeln der Intelligenz“ ersetzen durch „Handeln des Verstandes“, dann sind wir wieder bei Immanuel Kant, nämlich bei seinem Sapere aude: Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Herr Johann Gottlieb Fichte, unter Philosophie wird sehr viel Unterschiedliches verstanden und Philosophie befasst sich mit verschiedensten Dingen. Ihre Philosophie handelt also nicht von Dingen, sondern ist die Wissenschaft vom Wissen selbst?

„Da wir uns auf den unfruchtbaren Streit um das Wort Philosophie nicht einlassen wollen, haben wir diesen Namen längst preisgegeben und die Wissenschaft, welche die aufgezeigte Aufgabe zu lösen hat, Wissenschaftslehre genannt.“

Johann Gottlieb Fichte, herzlichen Dank für dieses Gespräch!

In den Reden an die deutsche Nation ruft Fichte im Bereich der Bildung zu einer Nationalerziehung nach dem Vorbild von Johann Heinrich Pestalozzi auf, die das menschliche Verhältnis zur Freiheit in der Vernunft- und Werterziehung verankern soll. Auch hier geht es wieder um die sittliche Bildung zur Freiheit, zur Selbständigkeit, zur Veredelung.

Wenn man die späteren Werke nur kurz überfliegt, sieht man wie nahe Fichtes Ideen bei denjenigen Hegels liegen. Auch auf andere Zeitgenossen wie Schelling wirkte Fichtes Philosophie, darüber hinaus auch auf Proudhon, Marx und Lassalle. Besondere Einflüsse der Interpersonallehre zeigen sich bei Weber und Sartre.

War Johann Gottlieb Fichte ein Atheist ? Nein, natürlich nicht. Nicht so sehr das Sein und der Kosmos interessieren ihn, als vielmehr der Mensch und seine inneren Möglichkeiten. Er war ein Gottessucher. Ein Idealist und nennt sich selbst einmal einen Akosmisten. D.h. Einen der Gott allein, aber nicht den Kosmos anerkennt. Er würde heute gut in den ‘Vorhof der Völker’ passen, jener relativ neuen Einrichtung der katholischen Kirche, die Benedikt XVI. seinem Kulturminister, Kardinal Gianfranco Ravasi, anvertraut hat. Und er würde, wenn er noch lebte, bestimmt nicht schweigen, in diesem Vorhof der Völker.

Hören wir nochmals Johann Gottlieb Fichte:

„Der wahre Atheismus, der eigentliche Unglaube, und Gottlosigkeit besteht darin, dass man über die Folgen seiner Handlungen klügelt, der Stimme seines Gewissens nicht eher gehorchen will, bis man den guten Erfolg vorherzusehen glaubt, so seinen eignen Rat über den Rat Gottes erhebt und sich selbst zum Gotte macht. Wer Böses tun will, damit Gutes daraus komme, ist ein Gottloser. In einer moralischen Weltregierung kann aus dem Bösen nie Gutes folgen, und so gewiss du an die erstere glaubst, ist es dir unmöglich, das letztere zu denken. – Du darfst nicht lügen, und wenn die Welt darüber in Trümmern zerfallen sollte. Aber dies ist nur eine Redensart; wenn du im Ernste glauben dürftest, dass sie zerfallen würde, so wäre wenigstens dein Wesen schlechthin widersprechend und sich selbst vernichtend. Aber dies glaubst du eben nicht, noch kannst, noch darfst du es glauben; du weißt, dass in dem Plane ihrer Erhaltung sicherlich nicht auf eine Lüge gerechnet ist.“

Aldo Parmeggiani







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