Papst an deutsche Katholiken: „Wir brauchen einen neuen Aufbruch“
Mit einer Botschaft
des Papstes ist am Mittwochabend der 98. Deutsche Katholikentag in Mannheim eröffnet
worden. Benedikt XVI. rief zu Treue im Glauben und zur Kirche auf. „Wir dürfen die
Kirche nicht in ihrem Haupt manipulieren“, heißt es in dem Grußwort, das von Papstbotschafter
Jean-Claude Périsset verlesen wurde. Anschließend wandten sich die Veranstalter und
Gastgeber an die Besucher des fünftägigen Treffens; es steht unter dem Motto „Einen
neuen Aufbruch wagen“. Bei kühlem, aber sonnigem Wetter waren nach offiziellen Angaben
15.000 Menschen zum Mannheimer Marktplatz gekommen. Der Papst richtete an die deutschen
Katholiken den Appell zu einem neuen Aufbruch. (kna/rv)
Hier die gesamte
Botschaft des Papstes im Wortlaut
Meinem verehrten Bruder Robert Zollitsch,
Erzbischof von Freiburg, den Bischöfen, Priestern, Diakonen und Ordensleuten sowie
allen Teilnehmern am Katholikentag in Mannheim
Liebe Brüder und Schwestern
in Christus! „Einen neuen Aufbruch wagen“ – unter diesem Leitwort versammeln sich
in diesen Tagen zahlreiche Gläubige zum 98. Deutschen Katholikentag in Mannheim. In
Verbundenheit grüße ich euch alle, die ihr zur feierlichen Eröffnung auf dem Marktplatz
im Herzen der Stadt zusammengekommen seid. Mein besonderer Gruß gilt dem Erzbischof
von Freiburg und Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Dr. Robert Zollitsch,
den anwesenden Kardinälen und Bischöfen sowie dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken,
das gemeinsam mit dem Erzbistum Freiburg Gastgeber dieses Katholikentags ist. Ebenso
grüße ich die Vertreter der Ökumene, des öffentlichen Lebens und alle, die über die
Medien mit euch verbunden sind. Bei dieser Gelegenheit erinnere ich mich gerne und
mit großer Dankbarkeit an meinen Pastoralbesuch im vergangenen Jahr in unserem Heimatland
und an die vielen bereichernden Begegnungen mit Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung
bei diesem großen Fest des Glaubens. „Einen neuen Aufbruch wagen“ steht über eurer
Zusammenkunft in Mannheim. Was will uns dieses Wort eigentlich sagen? Aufbrechen heißt
sich in Bewegung setzen, sich auf den Weg machen. Vielfach ist damit aber auch eine
Entscheidung zur Veränderung und Erneuerung mitgemeint. Aufbrechen kann nur, wer bereit
ist, Altes zurückzulassen und sich auf Neues einzulassen. Was aber bedeutet dies dann
für die Gemeinschaft der Kirche, die nach dem Apostel Paulus der geheimnisvolle Leib
Christi ist? Christus ist das Haupt, und wir sind die Glieder. Wir dürfen die Kirche
nicht in ihrem Haupt manipulieren, sondern wir selbst sind gerufen, uns immer wieder
neu als Glieder am Haupt, am „Urheber und Vollender“ unseres Glaubens (vgl. Hebr 12,2)
auszurichten. Erneuerung trägt nur Frucht, wenn sie aus dem wirklich Neuen von Christus
her geschieht, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist (vgl. Joh 14,6). So betrifft
Aufbruch jeden Gläubigen persönlich und zuinnerst. Durch die Taufe sind wir neu in
Christus. Der Herr hat unser Menschsein von der Knechtschaft der Sünde befreit und
„aufgebrochen“ für die lebensspendende Beziehung mit Gott. Dieses von Gott her geschenkte
Aufbrechen muß daher immer wieder ein persönliches Aufbrechen zu Gott hin werden.
Jeder hat sich um seinen persönlichen Glauben zu bemühen, ihn konkret zu leben und
ihn weiterzuentwickeln. Aber in unserem Glauben sind wir nicht allein, isoliert von
den anderen. Wir glauben mit und in der Gemeinschaft der Kirche. Aufbruch jedes Getauften
ist zugleich Aufbruch in und mit der Kirche! Zu allen Zeiten gab es Menschen, die
diesen Aufbruch gewagt haben und in denen sich die Gegenwart Gottes besonders deutlich
gezeigt hat. Das Glaubenszeugnis der Heiligen und der großen Schar von Christen, die
froh und unerschrocken die Botschaft des Evangeliums ihren Mitmenschen verkündet haben,
kann uns auch heute Mut machen zu einem neuen Aufbruch, uns anspornen zu einem neuen
Mut des Glaubens. Die Heilige Schrift und die Geschichte der Kirche kennen eine Vielzahl
von Menschen, denen das Allgemeinübliche ihrer Zeit nicht genügte, ja nicht genügen
konnte. Mit unruhigem und offenem Herzen waren sie fähig, in ihrem Leben und in den
Anforderungen des Alltags den „Heraus-Ruf“ Gottes zu vernehmen. Nicht menschliche
Unbeständigkeit ließen sie aufbrechen, sondern die Sehnsucht nach Wahrheit und das
Hören auf Gottes Wort. Wahrer Aufbruch, so zeigen sie uns, besteht im Gehorsam und
Vertrauen gegenüber Gottes Weisung und Ruf. Wer sich von Gott angeredet weiß und aus
diesem Dialog mit Gott heraus sein Leben gestaltet, überwindet Enge und Ängstlichkeit
und kann so „Rede und Antwort geben von der Hoffnung, die ihn erfüllt“ (vgl. 1 Petr
3,15). Ein Sohn der Stadt Mannheim, der Jesuitenpater und spätere Märtyrer Alfred
Delp, schildert uns in einer Betrachtung, die er wenige Wochen vor seinem Tod geschrieben
hat, jene Menschen, die unter dem Anruf Gottes aufbrechen und sich auf den Weg zu
machen wagen: „Es sind dies die Menschen“, so schreibt er, „mit den unendlichen Augen.
Sie haben Hunger und Durst nach dem Endgültigen; richtig Hunger und Durst. Sie sind
der entsprechenden Entschlüsse fähig. Sie ordnen das Leben seinen Endgültigkeiten
unter. Suchende, fahrende Menschen sind sie geworden, weil sie dem inneren Ruf und
dem äußeren Zeichen – das sie ohne den innerlichen Hunger und die gespannte Wachheit
nie bemerkt hätten – mehr glaubten als der sicheren und behaglichen Seßhaftigkeit“
(Im Angesicht des Todes, 97f). Liebe Schwestern und Brüder! Der Katholikentag
ist in einer Stadt zu Gast, in der sich eine schier unübersehbare Vielfalt von Ideen
und Auffassungen, von Lebensentwürfen und Religionen findet. Das Wagnis eines neuen
Aufbruchs bedeutet in einer solchen Umgebung, ihre Chancen und Gefährdungen zu erkennen
und Räume echten Miteinanders zu schaffen. Denn nur eine Menschheit, in der die „Zivilisation
der Liebe“ herrscht, wird sich eines wahren und bleibenden Friedens erfreuen können.
Als Kirche haben wir den Auftrag, den Anspruch und die Botschaft des Evangeliums offen
und klar zu verkünden. Der Beitrag aller Getauften zur Neuevangelisierung ist unerläßlich.
Auch unser Land braucht einen neuen missionarischen, apostolischen Aufbruch. Ein
besonderes Wort möchte ich den Jugendlichen und jungen Erwachsenen widmen. Vielen
von euch durfte ich im vergangenen Jahr beim Weltjugendtag in Madrid und einige Wochen
später bei der Vigilfeier in Freiburg begegnen. Wer wie ihr sein Leben noch vor sich
hat, ist immer wieder gefordert, Entscheidungen zu treffen und auch bei Enttäuschungen
wieder aufzustehen und kraftvoll Zukunft zu gestalten. Habt den Mut, euch an Jesus
Christus zu orientieren! Stärkt euch gegenseitig im Glauben! Steht in eurem Freundeskreis,
in Schule und Beruf für die Botschaft des Evangeliums ein! Wie Christus die Kirche
liebt (vgl. Eph 5,25), wollen auch wir die Kirche lieben. Ja, identifiziert euch mit
der Kirche, weil sich Christus mit der Kirche identifiziert, weil sich Christus mit
uns identifiziert! Schöpft aus dem Leben und aus der Wahrheit, die uns Christus in
der Kirche schenkt! Wir alle wollen diesen Schatz der Liebe Gottes den Menschen in
unserm Land bringen. Auf sein Wort hin wollen wir aufbrechen (vgl. Lk 5,5) und so
Gottes Aufbruch zu uns Menschen erwidern. Der 98. Katholikentag bildet gewissermaßen
einen Auftakt zum Jahr des Glaubens, das wir in Kürze anläßlich des fünfzigsten Jahrestages
der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils beginnen werden. So mögen diese Tage
zu einem Glaubensfest werden und mithelfen, den Glauben der Kirche in seiner Schönheit
und Frische wiederzuentdecken, ihn sich aufs neue und immer tiefer anzueignen wie
auch in eine neue Zeit hinein zu verkünden. Mit diesem Wunsch lege ich den Verlauf
des Katholikentags in Gottes Hände und erteile euch allen von Herzen den Apostolischen
Segen. Aus dem Vatikan, am 14. Mai 2012