Nigeria: „Muslime und Christen in der Ablehnung der Gewalt vereint“
Matthew Kukah ist
Bischof von Sokoto in Nigeria. Sein Bistum ist bisher von größerer Gewalt verschont
geblieben, aber trotzdem macht er sich Sorgen über den Zusammenhalt des Landes. Vor
allem fehle eine genaue Analyse des Problems. So sei beispielsweise die sogenannte
„Sekte“ Boko Haram keine kompakte Gruppe, sondern vielmehr eine Plattform für verschiedene
Gruppen.
„Auf der einen Seite hören wir von Boko Haram, dass man keine Probleme
mit Christen oder normalen Nigerianern habe. Aber gleich am nächsten Tag passiert
wieder etwas, was dem völlig widerspricht. Ich glaube nicht, dass es sich dabei um
eine zentrale Organisation handelt, die unter der Kontrolle eines Einzelnen steht.
Was seit drei oder vier Jahren passiert, ist hingegen, dass Boko Haram verschiedene
Gruppen versammelt, die verschiedene Interessen und verschiedene Absichten vertreten.“
Alle
Gruppen eint aber ihre Gegnerschaft zum Staat und den militärischen Behörden, die
nicht in der Lage seien, die Probleme des Landes in den Blick und unter Kontrolle
zu bekommen.
„Ich denke, dass das, was wir sehen, ein klares Zeichen dafür
ist, dass es verschiedene Level von Frustration mit dem Staat gibt. Es gibt Menschen
mit echten Auseinandersetzungen mit dem Staat. Es gibt Menschen, die genug haben von
der Korruption. Aber es sind auch Leute dabei, die sich diese Situation zu Nutzen
machen: Die, die Wahlen verloren haben oder andere Probleme haben, aber auch schlicht
Opfer von Grenzstreitigkeiten und andere. Wir können unter den Menschen ganz verschiedene
Ausdrucksformen von Unzufriedenheit wahrnehmen.“
Die Regierung Nigerias
hat schon einige Male versprochen, das Problem jetzt endlich in den Griff bekommen
zu wollen, es bisher aber nicht geschafft. Das ist aber kein Grund für Bischof Kukah,
an den Intentionen zu zweifeln.
„Ich glaube, dass es die Regierung ernst
meint und ich glaube nicht, dass sie mit dem Problem politisch spielen. Aber sie versucht
eine Krankheit zu behandeln, die noch nicht richtig diagnostiziert ist. Wenn man die
richtigen Mittel und Wege hätte, dann würden wir schon zumindest etwas Heilung sehen
können. Wer auch immer politische Spiele mit diesem Problem zu spielen versuchen würde,
müsste nun erkennen, dass da mittlerweile ein Feuer brennt, das weit über die Befürchtungen
hinaus geht. Ich kreide das nicht Leuten an, die das Problem nicht ernst nehmen. Ich
glaube, dass es eine Kombination von ganz verschiedenen Dingen ist, die vielleicht
trotz der guten Absichten das Verständnis derer übersteigt, die an der Macht sind.“
Die
meisten der Gründe für den Konflikt gingen auf lange zurückgehende Konstellationen
zurück, die jetzt neu und verstärkt aufflammen würden.
„Das ist wohl der
unglücklichste Aspekt von allen. Von den inkohärenten Forderungen wie ,Wir wollen
aus Nigeria einen islamischen Staat machen’ bis hin zu schlichten Hinweisen darauf,
dass man den Staat und die Sicherheitskräfte angreifen wolle wird klar, dass das nicht
Menschen sind, die sich überlegt haben, was sie eigentlich wollen. Es war ein kleines
Feuer, um das man sich nicht gekümmert hat und es ist jetzt ein massives unkontrolliertes
Feuer geworden. Und jetzt ist es schwierig, dieses Problem zu lösen.“
Die
Äußerungen würden deutlich machen, dass Boko Haram nicht wisse, wie man eine Gemeinschaft
leite oder aufbaue oder dass die Sekte auch nur verstanden hätten, wie komplex Nigeria
sei. Das Hauptziel scheine die pure Machtausübung ohne Ansehen der Opfer zu sein,
die auch bedeuten, dass Menschen sterben oder Gesundheit und Lebensgrundlage verlieren.
Es sei aber kein Bürgerkrieg einer Partei gegen eine andere, da die Bevölkerung weitgehend
einig sei:
„Man muss feststellen, dass es überall da, wo Boko Haram zugeschlagen
hat, ein allgemeines Gefühl des Abscheus erzeugt hat, und das geht über religiöse
Gruppen hinaus. Man würde es sich eben zu leicht machen, wenn man den Konflikt als
einen zwischen Angehörigen zweier Religionen, also Muslime gegen Christen, betrachten
würde. Zwar gibt es sicher einige, die genau das wollen, aber an der Art und Weise,
wie Muslime einschließlich ihrer Führer auf die Gewalt reagieren, sieht man, dass
das nicht als Religionskonflikt einzuordnen ist. Durch Angriffe auf katholische Kirchen
versuchen die Gewalttäter vor allem, auf sich aufmerksam zu machen, denn ihnen ist
klar, dass sie da eine Einrichtung angreifen, die auch jenseits der Grenzen Nigerias
präsent ist und dass sie damit weltweit Beachtung finden. Wir sollten bei den Opfern
nicht so sehr zwischen Christen und Muslimen unterscheiden; oft sind die Opfer zufällige
Passanten, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren.“
Den Attentätern
gehe es vor allem darum, größtmöglichen Schaden anzurichten und dadurch größtmögliche
Beachtung auf sich zu ziehen. Bischof Kukah befindet sich derzeit auf einer Reise
durch Europa, um auf die Lage der Christen in Nigeria aufmerksam zu machen.
„Vor
allem bedanke ich mich zunächst einmal für die Solidarität, die wir erfahren! Man
sollte sich jetzt nicht ängstlich aus Nigeria heraushalten, sondern weiter solidarisch
mit den Menschen dort sein. Ich schlage den Politikern außerdem vor, die nigerianische
Regierung zu ermutigen, beim Kampf gegen Boko Haram technische Hilfe aus dem Ausland
anzunehmen, damit Afrika ein Desaster erspart bleibt. Die internationale Gemeinschaft
sollte nicht davon ausgehen, dass Afrikas Probleme nur Afrika etwas angehen, sondern
darin einen Angriff auf unsere gemeinsame Menschlichkeit sehen!“