Vatikan/D: Kardinal Kasper analysiert Kirchenkrise
Nach Einschätzung des früheren Kurienkardinals Walter Kasper sind der Missbrauchsskandal,
steigende Austrittszahlen und die Vertrauenskrise der katholischen Kirche Zeichen
ihres Umbruchs. „All diese Phänomene zeigen, dass die Kirche in Europa einem epochalen
Wandel unterliegt", sagte der ehemalige Präsident des Päpstlichen Rates für die Einheit
der Christen im niedersächsischen Osnabrück. Auf globaler Ebene hingegen könne von
einer Ablehnung des Christentums keine Rede sein. Ein Beleg dafür seien die seit Jahrzehnten
wachsenden Katholikenzahlen in Afrika oder die vielen geistlichen Berufungen in Asien,
so der Kardinal.
Die derzeitige Situation der Kirche in Europa sei vergleichbar
mit der Säkularisierung Anfang des 19. Jahrhunderts, so Kasper. Demnach führe vielleicht
auch die gegenwärtige Krise zu einem Neuanfang. „Damals ist aus dem Zusammenbruch
des alten Kirchensystems die Volkskirche der katholischen Milieus entstanden." Sie
habe heute aber keine Basis mehr, sagte der Kardinal, vielmehr zeichne sich ab, dass
die beiden christlichen Kirchen zukünftig ein Minderheitendasein in einer weitgehend
säkularisierten Gesellschaft pflegen würden.
Dies solle jedoch nicht dazu
führen, dass die Kirche traditionelle Inhalte oder Formen über Bord zu werfen hätte.
Die Kirche werde sonst „zur Nussschale, die stürmischeren Gezeiten kaum stand hält."
Erstmals in der Menschheitsgeschichte berufe sich seit gut 300 Jahren eine Gesellschaft
nicht mehr auf Gott als Grundlage für ihr Selbstverständnis. „Wo diese Legitimierung
entfällt, ist alles erlaubt, dort wird alles relativ", warnte der Kardinal. Kirche
müsse daher neu von Gott reden und nicht von innerkirchlichen Fragen, die für viele
Menschen keinerlei Bedeutung hätten.