Neu gelesen: Alle Konzilsdokumente in einem Kongress
Die Texte des II.
Vatikanischen Konzils neu lesen, und zwar so, wie Papst Benedikt XVI. das in seiner
berühmten Weihnachtsansprache an die römische Kurie 2005 formuliert hat: in einer
Lesart der Kontinuität und nicht des Bruchs mit dem Vorhergehenden, mit der Tradition.
Das ist gar keine leichte Aufgabe heute, 50 Jahre nach dem Auftakt des Konzils, das
1965 endete. Insgesamt 16 offizielle Dokumente verabschiedete die große Bischofsversammlung,
und sie behandeln sämtliche Kernthemen der katholischen Kirche und ihrer Sendung in
der Welt: von der Liturgie über die Mission, von der Heiligen Schrift über die Aufgabe
der Laien, vom Ökumenismus bis zur Religionsfreiheit und mehr. An diesem Donnerstag
beginnt an der päpstlichen Universität Santa Croce ein internationaler Kongress zum
II. Vatikanischen Konzil, der versucht, eine Gesamtschau der Texte vorzulegen. Gudrun
Sailer sprach mit dem an Santa Croce lehrenden Kirchenhistoriker Johannes Grohe, der
die Tagung mitorganisiert hat.
„Wir möchten [mit dem Kongress] neu das Interesse
für das Konzil als Lehramt, als feierliches Lehramt der Kirche wachrufen, damit nicht
in der Diskussion um die Rezeption der einzelnen Texte und Textstücke vergessen wird,
dass das Konzil Ausdruck des obersten Lehramtes der Kirche ist vor mittlerweile 50
Jahren. Aber für die Rezeption eines ökumenischen Konzils sind 50 Jahre, was ich als
Historiker sagen darf, sehr wenig.“
Das Konzil gilt als das herausragende
Ereignis der letzten 150 Jahre Kirchengeschichte. Ist es nicht andererseits erstaunlich,
dass ein Konzil fast wichtiger scheint als alle Päpste und lehramtlichen Entscheidungen,
die außerhalb davon gefallen sind?
„Zum einen ist das II. Vatikanische
Konzil ein schönes Beispiel für diese Synthese der Zusammenarbeit von päpstlichem
und synodalem Lehramt. Dieses Konzil ist von Johannes XXIII. einberufen worden mit
dieser großen Vision, die ihn damals auszeichnete, von Paul VI. durchgeführt worden
und von Paul und den folgenden Päpsten in die Tat umgesetzt worden. In diesem Prozess
der Aufnahme der Konzilstexte und ihrer Umsetzung sind wir noch mitten drin. Das Konzil
ist auch deswegen ein so großes Ereignis gewesen, weil wegen der modernen Kommunikations-
und Transportmittel tatsächlich die Bischöfe der Weltkirche haben teilnehmen können.
Ein von so vielen Bischöfen besuchtes Konzil hatten wir bis dato nie. Mit anderen
Worten, wir haben tatsächlich Verwirklichung, Versammlung der Weltkirche in einem
Augenblick. Insofern ist das Konzil auch ein wichtiger Schritt zur Verwirklichung
dessen, was Weltkirche ist, was theologisch immer klar war, was aber auch de facto
in die Tat umgesetzt werden muss. In der Tat haben wir heute eine Wahrnehmung der
Kirchenleitung in einer kollegialen Form, wie es eigentlich schon über viele Jahrhunderte
nicht gewesen ist. Man hat immer wieder Ansätze gehabt, aber heute können wir davon
sprechen, dass die Kollegialität des Bischofskollegiums Wirklichkeit geworden ist.“
Das Konzil in der Lesart einer Hermeneutik der Kontinuität und nicht des
Bruchs – das hat Papst Benedikt angemahnt. Müsste man da nicht einige Dokumente, Entscheidungen,
Reformen revidieren?
„Reform bedeutet immer, dass etwas verändert wird
im Vergleich zu dem, was davor gelebt und gelehrt wird. Geändert heißt aber nicht,
dass man das, was zuvor gelehrt und gelebt wird, einfach für obsolet erklärt. Es ist
eine kontinuierliche Entwicklung im Lauf der Jahrhunderte der Dogmengeschichte. Und
so haben wir im II. Vatikanischen Konzil wichtige neue Akzente, die aber nicht einen
Bruch mit den Jahrzehnten und Jahrhunderten der Kirche davor bedeuteten. Die Umsetzung
der Dekrete des Konzils ist Aufgabe der ganzen Kirche, aber unter Leitung des Lehramtes.
Insofern ist die qualifizierte Interpretation der einzelnen Texte durch die Päpste
des Konzils und danach die entscheidende Stimme, die die Richtung angibt, wie die
Texte aufgenommen und verwirklicht werden sollen.“
Das heißt, wenn es Fehlinterpretationen
des Konzils gibt, müssen sie vom Papst bzw. unter seiner Anleitung zurechtgerückt
werden. Aber gab und gibt es denn nun solche Fehlinterpretationen von Konzilstexten,
die in dieser Form des Zurechtrückens bedürfen?
„Natürlich, ein Konzilstext
ist nie ein endgültiges Wort. Hinzu kommt, dass die Texte des II. Vatikanischen Konzils
im Unterschied zu anderen Konzilien früherer Jahrhunderte eine Eigenart besitzen:
das Konzil hat sich selbst als pastorales Konzil definiert. Das heißt nicht, dass
nicht lehrhafte Aussagen gemacht worden seien, die bindend sind. Aber wo es pastorale
Aussagen sind, wo es disziplinäre Aussagen sind, liegt es auf der Hand, dass im Lauf
der Zeit neue Fragen auch neue Antworten erfordern. In anderen Worten, die Kirche
findet auf neue Fragestellungen sicherlich unter der Orientierung des II. Vatikanums
auch neue Antworten, aber eben unter der Leitung des päpstlichen, bischöflichen Lehramtes.“
Papst Benedikt hat ein Jahr des Glaubens ausgerufen und dessen Auftakt
am 11. Oktober 2012 angesetzt – das ist der 50. Jahrestag des Beginns des II. Vatikanums.
Von welchen Neuerungen des Konzils erhofft sich der Papst Ihrer Einschätzung nach
besonders starke Impulse für das Glaubensleben heute?
„Wenn wir von Glauben
und Erneuerung des Glaubens sprechen, bedeutet das gegenüber dem Wort Gottes immer
die Haltung des gehorsamen Hinhörens. Das Konzil vermittelt uns die Lehre der Kirche,
auf die die Hirten, Theologen und das ganze Volk Gottes gläubig hinhören müssen. Mit
anderen Worten, zu sagen: das ist jetzt schon 50 Jahre her, das sagt der Kirche heute
nichts mehr, wir müssen darüber hinausgehen, ist zumindest leichtfertig. Aber zu behaupten:
diese Texte sind ein Bruch mit der Tradition zuvor, wir müssen auf die Tradition zuvor
zurückgreifen – wie es aus einer Ecke der Kritik gegenüber dem Konzil verlautet, hilft
auch nicht weiter. Wir müssen annehmen, dass in diesem Konzil der Heilige Geist gesprochen
hat, dass also die Kirche für unsere Zeit mit oberster Autorität lehrt, und da kommt
es immer wieder bei aller Unterschiedlichkeit von Meinungen und theologischen Schulen
dazu, dass der Einzelne sich im gläubigen Gehorsam an das hält, was die Kirche uns
gelehrt hat. Das muss man im Grund gegenüber den Extremen verteidigen, die etwa versuchen,
die Konzilstexte auszuhebeln mit anderen Quellen. Es gibt etwa eine historiografische
Linie, die Konzilstexte und andere Quellen aus dieser Zeit einander gegenüberstellt,
etwa Tagebücher der Konzilsväter und Periti und so weiter, als wäre das der Punkt,
auf den wir uns beziehen könnten. Sicher: Konzilstexte sind immer Mehrheitsentscheidungen.
Im Fall des II. Vatikanischen Konzils hat insbesondere Paul VI. sehr darauf gedrängt,
dass immer eine Fast-Einmütigkeit da war. Er hat so lange um den Text gerungen, bis
fast alle dann ja dazu sagen konnten. Wenn nun in einer gewissen Interpretation gesagt
wird, Kompromisstexte bedeuten, dass nicht alle zum Zuge kommen, also gehe ich dem
nach, wo die abweichende Meinung irgendwo in anderen Quellen zu finden ist und behaupte,
das ist das eigentliche Konzil, dann ist das weder historiographisch akzeptabel noch
theologisch verantwortbar.“
Welche Impulse für den Glauben heute vermag
also das Konzil zu geben?
„Das Konzil hat Großes vorgelegt über das, was
die Kirche selber ist, was das Volk Gottes ist. Wir haben im Grund noch ungehobene
Schätze. Was mir persönlich naheliegt ist, deutlich zu machen, dass das Volk Gottes
als Ganzes Kirche ist, dass die Laien in der Kirche eine große Aufgabe und Berufungen
haben, dass es keine verschiedenen Klassen von Berufung zur Fülle des christlichen
Lebens, oder sagen wir es mit dem theologischen Begriff: zur Heiligkeit gibt, sondern
dass das alle Glieder des Volkes Gottes in gleicher Weise angeht. Hier könnte man
sagen, es sind in der Tat noch Schätze zu heben, die zwar nicht völlig versteckt sind,
denn glücklicherweise bemühen sich viele Männer und Frauen in der Kirche seit Jahrzehnten
darum, genau das in die Tat umzusetzen. Und glücklicherweise gibt es auch viele Aufbrüche,
die sich irgendwo alle auf diese neue Sicht von Kirche, von Mitwirkung zwischen gläubigen
Laien und Amtsvertretern in der Kirche zurückführen lassen.“
Der zweitägige
Kongress an der Santa Croce-Universität trägt den Titel „Der permanente Wert einer
Reform für die Neuevangelisierung“ und steht unter der Schirmherrschaft des Erzbischofs
von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx. Über die liturgische Konstitution
„Sacrosanctum Concilium“ spricht Helmut Hoping von der Universität Freiburg im Breisgau,
über die Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ der emeritierte Osnabrücker Sozialwissenschaftler
Manfred Spieker.