2012-03-17 12:17:46

Unser Buchtipp: Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen


RealAudioMP3 Rainer Beck: Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen. Eine Besprechung von Stefan v. Kempis

Im Jahr 1715 wird die Obrigkeit im bayrischen Bischofsstädtchen Freising auf den Betteljungen Andre aufmerksam: Der Junge hatte angeblich auf einer Wiese vor der Stadt Mäuse hervorgezaubert. Dabei konnte es, so argwöhnten Hofrat und Stadtrichter, eigentlich nur mit dem Teufel zugegangen sein. Der Junge wird verhaftet und legt – das ist die erste handfeste Überraschung dieses Buches – sofort ein umfängliches Geständnis ab. Ein Geständnis, das den Kreis der Verdächtigen rasch anwachsen läßt: Andre will nicht nur Nacht für Nacht vom „Bösen Feind“ oder „Deifl“ besucht worden, sondern von ihm auch mehrmals „auf den Tanz geführt worden“ sein, und zwar „in einer Kutschen“, „woran zwei Pferd, so Feuer ausgespieen“. Einer der letzten großen Hexenprozesse in deutschen Landen nimmt von hier seinen Ausgang. Die Beschuldigten: fast ausschließlich Kinder.

Auf annähernd tausend Seiten arbeitet sich der Historiker Rainer Beck mit akribischer Geduld durch die Verhörprotokolle aus den Jahren 1715-23, die er in einem Münchner Archiv an Land gezogen hat. Dabei führen nicht Polemik und Unverständnis ihm die Feder, sondern die behutsam angegangene Frage, wie ein solcher Prozess an der Schwelle zur Moderne überhaupt möglich war, aus welchen Voraussetzungen und Denkmustern er sich speiste, welchen Gesetzmäßigkeiten er folgte. Eine fremde Welt blickt uns hier an, die kleinstädtische, ummauerte Welt unserer direkten Vorfahren. Der Leser erfährt viel – und muss immer wieder mal seine Standpunkte überprüfen. Exkurse über Folter, Hexenvorstellungen, Wahrheit und Lüge lassen ein aus tausenden Mosaiksteinen zusammengesetztes Bild entstehen, bei dem die verhörten Kinder nicht nur als eindimensionale Opfer gezeichnet, sondern als lebendige, auch widersprüchliche Persönlichkeiten in ihrer Würde ernstgenommen werden.

Ein außergewöhnliches, ein unvergeßliches Buch. Es verändert und schärft den Blick auf unsere Geschichte – und auf uns selbst. Nach heutigen Schätzungen fielen dem Hexenwahn der frühen Neuzeit bis zu 60.000 Menschen zum Opfer, fast die Hälfte davon in Deutschland. Während es aus den deutschen Kirchen schon deutliche Schuldeingeständnisse gibt, stoßen Rehabilitationsbemühungen für die Opfer von damals bei vielen Städten heute auf erstaunlichen Widerstand.

Das Buch ist im C.H. Beck Verlag erschienen und kostet etwa 50 Euro.

(rv 17.03.2012 sk)







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