Unser Buchtipp: Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen
Rainer Beck:
Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen. Eine Besprechung von Stefan v. Kempis
Im
Jahr 1715 wird die Obrigkeit im bayrischen Bischofsstädtchen Freising auf den Betteljungen
Andre aufmerksam: Der Junge hatte angeblich auf einer Wiese vor der Stadt Mäuse hervorgezaubert.
Dabei konnte es, so argwöhnten Hofrat und Stadtrichter, eigentlich nur mit dem Teufel
zugegangen sein. Der Junge wird verhaftet und legt – das ist die erste handfeste Überraschung
dieses Buches – sofort ein umfängliches Geständnis ab. Ein Geständnis, das den Kreis
der Verdächtigen rasch anwachsen läßt: Andre will nicht nur Nacht für Nacht vom „Bösen
Feind“ oder „Deifl“ besucht worden, sondern von ihm auch mehrmals „auf den Tanz geführt
worden“ sein, und zwar „in einer Kutschen“, „woran zwei Pferd, so Feuer ausgespieen“.
Einer der letzten großen Hexenprozesse in deutschen Landen nimmt von hier seinen Ausgang.
Die Beschuldigten: fast ausschließlich Kinder.
Auf annähernd tausend Seiten
arbeitet sich der Historiker Rainer Beck mit akribischer Geduld durch die Verhörprotokolle
aus den Jahren 1715-23, die er in einem Münchner Archiv an Land gezogen hat. Dabei
führen nicht Polemik und Unverständnis ihm die Feder, sondern die behutsam angegangene
Frage, wie ein solcher Prozess an der Schwelle zur Moderne überhaupt möglich war,
aus welchen Voraussetzungen und Denkmustern er sich speiste, welchen Gesetzmäßigkeiten
er folgte. Eine fremde Welt blickt uns hier an, die kleinstädtische, ummauerte Welt
unserer direkten Vorfahren. Der Leser erfährt viel – und muss immer wieder mal seine
Standpunkte überprüfen. Exkurse über Folter, Hexenvorstellungen, Wahrheit und Lüge
lassen ein aus tausenden Mosaiksteinen zusammengesetztes Bild entstehen, bei dem die
verhörten Kinder nicht nur als eindimensionale Opfer gezeichnet, sondern als lebendige,
auch widersprüchliche Persönlichkeiten in ihrer Würde ernstgenommen werden.
Ein
außergewöhnliches, ein unvergeßliches Buch. Es verändert und schärft den Blick auf
unsere Geschichte – und auf uns selbst. Nach heutigen Schätzungen fielen dem Hexenwahn
der frühen Neuzeit bis zu 60.000 Menschen zum Opfer, fast die Hälfte davon in Deutschland.
Während es aus den deutschen Kirchen schon deutliche Schuldeingeständnisse gibt, stoßen
Rehabilitationsbemühungen für die Opfer von damals bei vielen Städten heute auf erstaunlichen
Widerstand.
Das Buch ist im C.H. Beck Verlag erschienen und kostet etwa 50
Euro.