2012-02-20 15:37:37

Joachim Gauck: „Auf Dauer hilft Wahrheit“


RealAudioMP3 Nach dem Christian-Wulff-Debakel soll es jetzt offenbar ein evangelischer Theologe richten: Joachim Gauck ist der Kandidat für das Amt des deutschen Bundespräsidenten. Der 72-Jährige war jahrzehntelang lutherischer Pfarrer in Rostock und Gegner des DDR-Regimes. Nach der Wende leitete er die Stasi-Unterlagenbehörde und wurde durch packende Vorträge über die Segnungen der Demokratie bekannt: ein deutscher Obama, sozusagen, und zwar einer aus einem Pfarrhaus. Wenn in letzter Zeit immer wieder zu hören ist, Europa und auch Deutschland bräuchten eine neue Story, eine neue Erzählung, um sie den Menschen nahezubringen – in Gauck könnte den Deutschen ein solcher Erzähler erstanden sein.

Die katholische Kirche in Deutschland will die Personalie nicht kommentieren, solange Gaucks Wahl ins höchste Staatsamt noch nicht ganz sicher ist. Aber wenn der Rostocker den Sprung schafft, dann steht der Kirche – den Kirchen - ein Präsident ins Haus, der sie von innen kennt und der inspirierend, aber manchmal auch unbequem sein dürfte. Vor drei Jahren war Gauck in Rom; da nutzte er ein Interview mit uns, um dem Vatikan zu mehr Offenheit zu raten, was die Haltung Pius XII. zum Holocaust betrifft. Auf die Frage, ob der Vatikan seine Archive zur Zeit des Zweiten Weltkriegs bald freigeben sollte, meinte Gauck:

„Die Kirche – die Kirchen sollten sich immer fragen, ob Imagepflege das letztgültige Argument ist, wenn sie Entscheidungen suchen. Ich denke, dass es das nicht ist, um es ganz deutlich zu sagen! Heutige Verantwortliche in der Kirche mögen sich scheuen, problematische Unterlagen ihrer Amtsvorgänger und von Bischöfen oder Gemeindegliedern zu veröffentlichen; das kann man verstehen. Sie haben Sympathie mit ihren Vorgängern und wollen nicht, dass die in den Schmutz gezogen werden. Aber auf Dauer hilft Wahrheit!“

„Wahrheit macht frei“ – das ist ein Wort Jesu aus dem Johannesevangelium, an das Joachim Gauck im Interview mit Radio Vatikan erinnerte. Natürlich sei dieser Satz Jesu nicht in erster Linie politisch gemeint.

„Aber dieser religiöse Satz hat eben auch im Leben der Menschen eine Rolle – und auch im öffentlichen, nicht nur im privaten Raum! Es würde nämlich darauf ankommen, ob eine Kirche, die sich heute diese Offenheit leistet, imstande ist, die Fehler und Irrtümer – und auch die Schuld! – von Vorgängern öffentlich zu besprechen. Die Wahrheit von heutigen Akteuren würde darin bestehen, dass sie die Geschehnisse von einst nicht mehr verbergen, sondern sagen: Ja, es war so – und vielleicht war es falsch! Vielleicht war es sogar Sünde.“

Bis September 2000 war Gauck, zehn Jahre lang, Herr über 180 Regalkilometer Spitzelakten aus der Zeit der DDR. Er wollte sich in Sachen Vatikanarchiv nicht detailliert äußern. Doch drängte er den Vatikan, vor der Wahrheit keine Angst zu haben.

„Immer dann, wenn wir mit der Wahrheit in die Öffentlichkeit und zu unserem Gegenüber gehen, entstehen andere Lösungsvarianten, als wenn wir nur deckeln oder Imagepflege betreiben. Also: Auf der Wahrheit liegt ein Segen! Es liegt oft auch Kampf vor einem, wenn man die Wahrheit sagt – auch ein Meinungskampf. Aber es löst sich dann leichter! Und deshalb sind diese Varianten, die dichter an der historischen Wahrheit sind, in der Regel vorzuziehen.“

(rv 20.02.2012 sk)








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