Deutsche Missbrauchsexperten: „Dass Missbrauch zur Sprache kommt, ist schon ein Erfolg“
Seit Montag tagen
in Rom über 100 Bischöfe, 40 Ordensobere und 80 Spezialisten zum Thema Missbrauch
von Kindern durch Kleriker. Unter den Teilnehmern am Kongress an der Universität Gregoriana
sind auf deutschsprachiger Seite unter anderem Jörg M. Fegert, Professor für Kinderpsychatrie
am Universitätsklinikum Ulm, und Hubert Liebhardt, Diakon und Direktor des Zentrums
für Kinderschutz in München, das die Universität Gregoriana gemeinsam mit der Universität
Ulm und dem Erzbistum München und Freising gegründet hat. Hören Sie Jörg Fegert und
Hubert Liebhardt im Gespräch mit Pater Hagenkord.
Herr Liebhardt, wie
kam es zu dieser Gründung?
Wir sind seit letztem Jahr mit der
päpstlichen Universität Gregoriana sehr intensiv im Gespräch, um ein Zentrum für Kinderschutz
aufzubauen. Im kirchlichen Kontext beschäftigen wir uns mit dem Thema natürlich schon
länger.
Herr Prof. Fegert, sie sind schon Ihr ganzes Berufsleben mit
diesen Fragen beschäftigt.
Mein erster Fall als Arzt in der
Kinder- und Jugendpsychiatrie war ein Mädchen, das sexuell missbraucht worden war.
Damals fand man in Lehrbüchern noch überhaupt nichts zu dem Thema. Mir ist dieses
Thema über meinen ganzen beruflichen Weg Begleiter gewesen, weil es mich sehr bewegt
hat, wie wir diesen betroffenen Kindern eine bessere Versorgung gewährleisten können.
Stark geprägt haben mich nach meiner damaligen Berufung nach Rostock Gutachten, die
ich über Kollegen, die sexuell missbraucht haben, machen musste. Dort hat man gesehen,
wie die Macht einer Institution, aber auch das Vertrauen, das man in eine Institution
setzt, ausgenutzt werden kann, um Kinder auszubeuten. Von da war der Schritt nicht
weit, auch als Gutachter andere Situationen anzuschauen und vor allem den Betroffenen
Beratung und Unterstützung zu geben. Nach der Veröffentlichung der Ereignisse hat
sich die Dimension der Diskussion in den letzten zwei Jahren in Deutschland noch einmal
völlig ausgeweitet. Ich war für Frau Dr. Bergmann, die unabhängige Beauftragte der
Bundesregierung, der Begleitforscher, der die Anrufe und Meldungen, die bei ihr eingegangen
sind, wissenschaftlich ausgewertet hat und in die Debatten des Runden Tisches eingespeist
hat, den wir in Deutschland zur Aufarbeitung der sexuellen Missbrauchsskandale hatten.
Gehen
wir in die Zeit vor dem 28. Januar 2010 zurück – Herr Prof. Fegert, als Sie angefangen
haben, gab es noch gar nichts in den Lehrbüchern, wie kann man sich die Entwicklung
seitdem vorstellen?
Am Anfang war es vor allem eine Debatte
in feministischen Zeitungen und Zeitschriften. Es war eine Frage der Macht zwischen
den Geschlechtern, der sexuellen Ausbeutung, eher eine soziologische Debatte. Es wurde
dann ein klinisches Thema, sehr schnell dann auch ein rechtliches Thema und eine Frage
der Glaubhaftigkeit von Kinderaussagen. Es gab zwar viele Initiativen und Projekte,
die sich um Kinder kümmerten, aber es gab bisher wenig grundlegende Forschung und
auch wenig Fortbildung. Sozialarbeiter haben sich mit dem Thema beschäftigt, aber
Ärzte, Lehrer und Priester sind auf diese Fragestellung nicht vorbereitet worden.
Man spricht heute oft von Priestern als potentiellen Tätern, aber zunächst einmal
sind alle Personen, die Vertrauenspersonen sind, auch privilegierte Ansprechpartner
für Kinder. Und der meiste Missbrauch findet in der Familie statt! Das darf man nicht
vergessen. Es ist zentral für die Ausbildung aller Vertrauenspersonen, dass sie geeignete
Gesprächspartner sind, die sich Kinder annehmen können.
Herr Dr. Liebhardt,
Sie sind Direktor des neuen Zentrums für Kinderschutz der Gregoriana in München. Was
denken Sie, kann das Zentrum dazu beitragen, dass genau das für die Betreuer, die
Anlaufstellen, die Vertrauenspersonen hergestellt werden kann?
Es ist
mir in dem Symposium schon klargeworden, dass Ausbildung ein zentrales Instrument,
eine Ressource sein wird, um auch innerhalb der Kirche eine Kultur der Achtsamkeit
zu schaffen. Ich denke, dass dieses Zentrum sehr hilfreich sein kann, in der internationalen
Ausbreitung der katholischen Kirche eine Maßnahme zu schaffen, die standardisierte
Inhalte anbieten kann.
Was ist Ihr Eindruck von dem Kongress, Herr Liebhardt?
Was mich sehr beeindruckt, ist die Internationalität: So viele Bischöfe
aus der ganzen Welt, die ganz aufmerksam und interessiert sind. Es gab zwei Dinge,
die mich besonders berührt haben: Die Rede von Kardinal Levada, dem Vorsitzenden der
Glaubenskongregation, der sehr offen und ehrlich alle Problembereiche angesprochen
hat. Und der Bericht von Marie Collins, einer Betroffenen. Das war sehr berührend.
Haben
wir schon eine gemeinsame, kulturübergreifendes Sprache, wenn es darum geht zu verstehen,
was ein Täter bei einem Betroffenen anrichtet? Haben Sie da eine Basis, von der Sie
ausgehen, Herr Prof. Fegert?
Ich denke, das ist heute sehr
klar dargestellt worden. Zuerst einmal ist eine allgemein akzeptable Definition genannt
worden, dass sexueller Missbrauch ein Übergriff auf Kinder ist, in den Kinder nie
willentlich einwilligen können. Es ist nichts, was auf einer gleichberechtigten Beziehung
beruhen kann, weil das Machtgefälle und die pastorale Verantwortung dem natürlich
völlig entgegen steht. Es wurde auch sehr klar gesagt, dass das fast alle Staaten
der Welt im Strafrecht als einen Verstoß kodifiziert haben, der zu verfolgen ist.
Deshalb wird eine zentrale Forderung aufgestellt: Die Strafverfolgung, der zivile
Bereich ist mit einzubeziehen, das kann die Kirche nicht allein mit dem Kirchenrecht
klären. Aber sie muss die Fälle natürlich auch adressieren. Und auch die Fälle, die
wegen fragwürdiger Dinge offen bleiben, weil sie verjährt sind, können kirchlich nicht
ungesühnt und nicht unreflektiert bleiben. Selbst wenn jemand strafrechtlich seinen
Kopf aus der Schlinge ziehen kann, weil es zu lange her ist, muss man auf diese Fälle
reagieren!
Was mich auch stark berührt hat, war die Tatsache, dass zusammen
mit einer Expertin eine Betroffene ihre Situation geschildert hat und dass daraus
dann abstrakt Regeln abgeleitet wurden. Es wurde gezeigt, wie die Tat an sich dieses
betroffene Mädchen aus seiner Lebensbahn geworfen hat, wie sie Maßstäbe verloren hat,
wie sie sich selbst Schuldgefühle machte und deshalb auch Jahre nicht darüber gesprochen
hat. Die zweite Ebene der Traumatisierung war dann, als sie, ermutigt durch die Therapie,
es nach zahlreichen Behandlungen gewagt hat, ihren Bischof damit zu konfrontieren
und ihr kein Gehör geschenkt wurde. Das war für sie eine erneute Belastung: Sie nimmt
allen Mut auf, geht zur Kirche und will mit ihr sprechen und es wird nicht entsprechend
reagiert. Das in mehreren Ebenen darzustellen und auch die Zuhörerschaft damit zu
konfrontieren, war für mich ein neuer Aspekt. Als ich vor etwa zehn Jahren schon einmal
bei einer Konferenz im Vatikan war, stand die Auseinandersetzung mit den Tätern ganz
stark im Vordergrund: Wie kann man sie diagnostizieren und ausschließen, wie kann
man den Schaden dadurch verhindern, dass man die Täter im Griff behält. In den letzten
zwei Tagen war für mich die ganz klare Botschaft: Der erste Schritt ist es, den Opfern
Gehör zu geben und die Schwächsten zu schützen. Das hat mich sehr berührt und das
finde ich sehr richtig.
Menschen aus aller Welt sind bei dem Kongress
mit dabei. Gibt es im Missbrauch und im Reden über Missbrauch kulturelle Unterschiede?
Fegert: Es gibt sicher kulturelle Unterschiede. Wir haben gerade aus Südafrika
das für uns absurd klingende Beispiel gehört, dass dort viele Leute davon überzeugt
waren, dass es sie von Aids heilen könnte, wenn sie mit einem Kind oder mit einer
Jungfrau schlafen. Also irrationale Vorstellungen, die vielleicht zu den enorm hohen
Raten von Missbrauch in Afrika beitragen. Was aber auch gesagt wurde: Überall da,
wo man den Eindruck hat, das kommt bei uns nicht vor, soll man sehr skeptisch sein
und auf die realen Raten schauen. Zuerst hat man, als in Amerika Fälle bekannt wurden,
gesagt: Das ist ein amerikanisches Problem. Dann war`s plötzlich ein englischsprachiges
Problem, weil die Fälle in Irland dazukamen. Dann kamen wir in Deutschland mit dazu,
und daraufhin hieß es: Das ist ein Problem der westlichen Welt. Allerdings wurde Kindesmissbrauch
dann auch in Afrika mehr thematisiert – und wir wissen aus allen Statistiken: Die
Häufigkeiten von sexuellem Missbrauch sind auf der ganzen Welt vergleichbar. Es gibt
kein System, das ausgenommen ist, und auch keine Bevölkerungsschicht, denn das kommt
nicht nur bei Armen vor, sondern überall. Wichtig ist aber auch: Missbrauch durch
Geistliche ist ein schlimmes Problem, und die Kirche muss damit umgehen! Gleichzeitig
muss aber die Kirche die Geistlichen, Menschen im kirchlichen Ehrenamt, Diakone usw.
auch dazu ausbilden, dass man für Kindern, die in anderen Bereichen missbraucht werden,
eine schützende Situation herstellen kann. Diese Garantenfunktion einer Vertrauensperson
muss, denke ich, publiziert werden. Deshalb ist dieses Wissen über Missbrauch in zweierlei
Hinsicht wichtig.
Herr Dr. Liebhardt, sie leiten das Kinderschutzzentrum,
was glauben Sie von anderen Ländern für ihr e-learning-Projekt lernen zu können? Was
können wir in deutschsprachigen Ländern lernen, oder was können wir auch von unseren
Erfahrung weitergeben?
Mir ist beim Symposium aufgefallen,
dass es offenbar noch keine zentrale Stelle in der katholischen Kirche gibt, die genau
weiß, was in den jeweiligen Ländern tatsächlich bereits an Präventionsmaßnahmen läuft.
Es gibt Länder, Bischofskonferenzen, die sehr wohl die Regelungen des Vatikans von
2010 realisiert und umgesetzt, wie sie in Verdachtsfällen handeln müssen. Was wir
lernen können ist das Hinhören, was andere Länder schon tun und wie weit sie in ihrer
Entwicklung sind. Wir arbeiten im Rahmen des Zentrums mit acht Ländern zusammen, sechs
davon sind Entwicklungs- und Schwellenländer. Wir werden dort auch hinfahren und uns
anhören und anschauen, wie sie ganz konkret arbeiten.
Was wäre für
sie ein Erfolg dieses Kongresses?
Liebhardt: Ich kann mir vorstellen,
dass die Bischöfe, die hier sind, von Rom ganz angeregt nach Hause gehen und dieses
Thema dann auch weiter in ihren Diözesen bearbeiten werden. Das scheint mir die große
Zielsetzung dieses Symposiums, und es hat in den ersten zwei Tagen schon gezeigt,
dass das Potential dafür da ist, weil die Qualität der Redner und der Beiträge sehr,
sehr hoch ist und auch die Bereitschaft sich spüren lässt, sich diesem Thema wirklich
ernsthaft zu widmen.
Fegert: Ein Erfolg ist schon, dass das Thema zur Sprache
kommt und dass es in einem sehr offiziellen Charakter von höchster Ebene unterstützt
wird. Das macht Normen deutlich und macht klar, was unrecht ist und was recht ist.
Der zweite Erfolg, den ich mir erhoffe, ist, dass nicht nur Leitlinien und geduldiges
Papier produziert werden, die dann vor Ort angewandt werden oder nicht. Sondern dass
Haltung entsteht. Denn hinter einer Leitlinie muss immer ein Bewusstsein stehen. Man
muss wissen, warum man primär in den jeweiligen Beruf gegangen ist. Für mich als Arzt
war das der alte Satz: Das Heil des Schwachen und Kranken ist das höchste Recht. Das
gleiche gilt, denke ich, auch für Priester. Man muss sich an die eigene Berufung erinnern
und sich überlegen, für wen man da ist. Das wäre der Erfolg einer solchen Tagung.
Wenn sich das vermitteln lässt und wenn es gelingt, das deutlich zu machen, dann ist
sehrt viel erreicht worden.