Venedigs neuer Patriarch: Mitten unter den Menschen
Es war eine mit Spannung erwartete Entscheidung aus dem Vatikan: Wen würde Papst Benedikt
als neuen Patriarchen von Venedig berufen? Den bewährten Kardinal Angelo Scola hatte
der Papst im Juni letzten Jahres nach Mailand versetzt, in Italiens größte Diözese.
Venedig ist der zweitwichtigste Bischofssitz im Land. Am Dienstag schließlich wurde
die Berufung veröffentlicht: Neuer Patriarch von Venedig ist der bisherige Bischof
von la Spezia, Francesco Moraglia.
Der Markusdom mit seinen byzantinischen
Kuppeln ist ab nun seine Kathedrale. Die Aufgabe hat er mit einem Schuss Zaghaftigkeit
angenommen, wie er uns im Interview wenige Minuten nach Bekanntmachung seiner Ernennung
anvertraute:
„Mein Seelenzustand? Ich zittere ein wenig. Ich zittere, weil
ich mich in einer Lage finde, die ich mir nie vorgestellt habe, und ich frage mich,
was mich erwartet. Dann bin ich in die Kapelle gegangen und habe dem Herrn im Tabernakel
gesagt: Nun, im Grund bist Du mit mir, also vertraue ich mich Dir an.“
Moraglia
ist mit fast 59 Jahren ein junger Patriarch. Er lehrte Dogmatik und besitzt eine breite
philosophische Bildung, die es ihm erlaubt, mit allen Instanzen der Moderne ins Gespräch
zu kommen. In La Spezia leitete er früher u.a. das diözesane Kulturbüro. Alles kein
Nachteil für einen Bischof im kunstsinnigen, eleganten Venedig. Freilich ist auch
in der Lagunenstadt, wie überall sonst in Italien, die Wirtschaftskrise nicht vorübergegangen,
ohne Spuren zu hinterlassen.
„Die kirchliche Realität nimmt klarerweise
Teil an der sozialen, politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Kontextualisierung,
die diesen historischen Moment auszeichnet. Die Krise ist vorrangig anthropologisch-kulturell,
erst nachher wirtschaftlich. Als Bischof versucht man, die Dinge auch vom Menschen
aus zu betrachten und aufmerksam zu sein für das, was menschlich ist, was den Menschen
ausmacht. Und alles, was menschlich ist, ist auch christlich, und alles, was christlich
ist, gehört dem Menschsein zu. In dieser Perspektive versuche ich den derzeitigen
kritischen Moment für Italien und Europa zu sehen.“
In Italien sind Jugendliche
im Moment eine besonders gebeutelte Kategorie. Fast ein Drittel der jungen Menschen
zwischen 14 und 30 Jahren haben keinen Job. Ein Thema, das den Bischof beschäftigt.
„Ich sage unseren Jugendlichen oft: ihr seid die Zukunft“ Aber das müssen
wir ihnen auf kohärente Weise sagen, indem wir ihnen ein anderes Heute geben. Keine
Arbeit in jungen Jahren zu haben, heißt auch viele wichtige Lebensentscheidungen aufschieben
zu müssen, die sich wiederum auf die nachfolgenden Generationen auswirken. Darüber
gilt es mehr nachzudenken.“
Patriarch Moraglia war 2005 zum Bischof geweiht
worden. Schon in der Leitung der Diözese von La Spezia ließ er nach allgemeiner Aussage
hohe Qualitäten als Seelsorger erkennen. Bei seinen Pastoralbesuchen ließ er auch
kleinste Pfarreien nicht aus, begegnete den Jugendlichen, Erwachsenen und Kindern
persönlich und machte Hausbesuche bei Kranken. Ein Bischof unter den Menschen. Das
will er auch in Venedig fortsetzen.
„Ich denke, eine Maßnahme um Vertrauen
zu gewinnen für einen neuen Bischof ist die, seine Leute zu lieben, und ihnen irgendwie
zu vermitteln, dass es dieses Gefühl von Nähe gibt: in ihrer Mitte zu sein. Sicher,
ein Bischof muss auch reden und leiten. Aber ich denke, das Reden und Leiten kann
niemals davon absehen, dass man einer von ihnen sein muss, unter ihnen sein muss,
wenn auch mit der eigenen Sendung des Bischofs.“
Vier Jahre lang war Moraglia
in La Spezia. Besonders gern erinnert er sich an die Momente der Volksfrömmigkeit
dort zurück. Speziell Wallfahrten: jeden Samstag frühmorgens zu einem Marienheiligtum,
gemeinsam mit Jugendlichen, Erwachsenen, älteren Menschen. Mehrere Hundert Gläubige
fanden sich jedes Mal ein, man feierte Messe und betete Rosenkranz, um das Geschenk
von Priesterberufungen zu erbitten.
„Da gab es am Schluss immer die Begegnungen
mit den Teilnehmern an diesen Wallfahrten, also nach dem eigentlichen religiösen Teil.
Ich glaube, in diesem halben Tag pro Monat haben sich auf kirchlicher Ebene viele
Dinge verändert, denn diese Menschen trafen wir dann in anderen Momenten des Kirchenlebens
wieder. Und dann danke ich dem Herrn noch dafür, dass wir letzten Sonntag in unserer
Diözese La Spezia die andauernde eucharistische Anbetung einführen konnten. 365 Tag
im Jahr, rund um die Uhr, und in kürzester Zeit haben sich 700 Jugendliche, Erwachsene,
Kinder und Familien gefunden, die sich bei der Anbetung abwechseln. Das ist vielversprechend.“
Die
Diözese wird ihrem Bischof nachtrauern. Und das beruht auf Gegenseitigkeit.
„Ich
verlasse La Spezia mit dem Gefühl, erst ganz am Anfang meines Amtes gewesen zu sein.
Ich verlasse es mit viel Nostalgie, denn mit Gottes Hilfe habe ich mich dort sehr
wohl gefühlt; ich danke dem Herrn für die vielen Begegnungen in den Gemeinden und
die Erfahrung einer guten Berufungspastoral; die Zahl der Seminaristen ist von sieben
auf 17 gestiegen, das macht Hoffnung, denn es braucht diesen Lichtstrahl auf die Zukunft,
die im Priestertum liegt.“
Das Präsent-Sein unter den Leuten, das der Bischof
seinen Priester-Lehrlingen vermitteln wollte, lehrte er sie auch auf sehr konkrete
Weise, schreibt die Nachrichtenagentur zenit. Als es zu den großen Überschwemmungen
in La Spezia kam, habe Moraglia alle seine Seminaristen losgeschickt, um den Schlamm
wegzuschaufeln und den Bewohnern Trost zu spenden. Dabei sagte er, dass man die Theologie
nicht nur in Büchern lernt, sondern auch „auf den Feldern, in der Nähe der Menschen
und durch Besuchen, Trösten und Schaufeln“.
Nun also der Sprung in die Lagunenstadt.
Was sind die Hoffnungen des neuen Patriarchen von und für Venedig?
„Die
tiefsten Hoffnungen sind die, inmitten der Menschen zu sein als jener, der geschickt
wurde, um dem Glauben zu dienen. Also nicht als Herr des Glaubens meiner Leute, sondern
eher als Mitarbeiter der Freude dieser Personen. Das erste, was ein Bischof für seine
Kirche tun muss, ist beten. Und dann unter den Leuten sein und wenn man zu einer Entscheidung
kommt viel zuhören und „das Mögliche“ sehen. Das ist ja letztlich Seelsorge: sich
in einer gegebenen Lage mit dem Möglichen zu messen.“
Die Patriarchen von
Venedig werden traditionell zum Kardinal erhoben. Beim nächsten Konsistorium – nach
jenem, das für den kommenden 18. Februar angesetzt ist - kann Moraglia also mit der
Kardinalswürde rechnen. Damit wird er Papstwähler – und vielleicht sogar selbst „papabile“.
Im 20. Jahrhundert waren nicht weniger als drei Päpste venezianische Patriarchen,
zuletzt Johannes Paul I. (rv/zenit 01.02.2012 gs)