2012-01-25 08:15:27

Pater Mertes: Kirche hat aus Skandalen gelernt


RealAudioMP3 An diesem Samstag vor genau zwei Jahren brachen die Missbrauchsskandale über die katholische Kirche in Deutschland herein. Auslöser war das Bekanntwerden eines Brief des Jesuiten Klaus Mertes. Darin räumte der damalige Leiter des Canisiuskollegs in Berlin ein, dass sich Jesuiten in der Vergangenheit an Schülern sexuell vergangen hätten.

Mertes ist heute Leiter des Jesuitenkollegs St. Blasien im Schwarzwald. Stefan Kempis fragte ihn, ob er seinen Brief „heute noch einmal so abschicken würde wie damals“.

„Ja, selbstverständlich. Das ist für mich gar keine Frage.“

Ihr Brief von damals hat sehr viel aufgerührt. Haben Sie nicht manchmal heimliches Verständnis für die, die sagen „Jetzt ist doch genug aufgearbeitet, jetzt gibt es für alles ein Gremium, eine Hotline oder eine Entschädigungsstelle, und damit wenden wir uns wieder anderen Themen zu“?

„Ich kann dieses heimliche Verständnis natürlich auch gerne öffentlich machen: Natürlich kann ich das verstehen, diesen Impuls. Nur gibt es zwei Aspekte, die dabei zu berücksichtigen sind. Der erste Punkt ist: Natürlich wusste ich zu dem Zeitpunkt, als ich den Brief losschickte, noch nicht, welche Auswirkung er haben würde. Das war für mich aber nachträglich niemals ein Grund, irgendetwas daran zu bereuen! Immer wenn ich mich an die Entscheidungssituation vom Januar 2010 erinnert habe, hatte ich das Gefühl, es war die richtige Entscheidung. Der zweite Punkt ist: Die Aufklärung tut natürlich weh, und von daher ist der Impuls „es muss auch einmal Schluss sein“ verständlich. Aber es ist eben ein Schmerz, dem man sich stellen muss, weil die Wahrheit an sich immer eine schmerzliche Wahrheit ist! Es ist aber zugleich ein unglaublicher Segen für unglaublich viele Menschen, dass dieses Tabu gebrochen ist. Das ist die große Chance, die durch die Aufklärung kommt. Es ist im Sinne der Seelsorge ein heilsamer Akt.“

Das Tabu ist gebrochen, aber lässt sich diese neue Offenheit wirklich ständig aufrechterhalten, so wie Sie das gegenüber der KNA wünschen: „Die Fragen sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch müssen ein ständiges Thema in Gesellschaft und Kirche bleiben.“ Schläft das mit der Zeit nicht wieder automatisch ein? Wie kann man das denn ständig wach halten?

„Es geht ja nicht darum, dass die Medien es ständig wach halten müssen, sondern wir selbst müssen es ständig wach halten! Ich bin hauptberuflich Schulleiter. Ein Schulleiter muss immer wissen, dass es Themen wie Alkoholmissbrauch, Drogen, Gewalt gibt, die man ständig wach halten muss - im Sinne einer Grundaufmerksamkeit. Das gilt natürlich auch für diese Fragestellungen sexualisierter Gewalt. Es ist einfach damit zu rechnen, dass hier ein Risiko vorliegt, und es muss eine Grundaufmerksamkeit vorliegen, die nicht mit einer Stimmung von Hysterie oder aufbauschender Panik zu verwechseln ist. Das ist das, was ich meine!“

Hat die deutsche Kirche aus den Missbrauchsskandalen hinreichend gelernt?

„Zuerst einmal hat sich die Kirche erschüttern lassen. Das ist schon einmal ein großer Wert. Die Lernprozesse, um die es da geht, sind langfristige Lernprozesse. Das müssen sie auch sein, denn nur dann sind sie auch wirklich nachhaltig. Ich glaube, dass die Kirche in diesem Sinne auch wirklich einiges gelernt hat: Zum Beispiel diese Grundaufmerksamkeit, dass es beim Missbrauch nicht nur um die Missbrauchstat geht, sondern auch um die Verantwortung der Institution für das Hinschauen und Hinhören, wenn Opfer versuchen zu sprechen. Das ist ein Beispiel, und da hat sie viel gelernt.

Ich denke, sie hat auch hinzugelernt (das war ja auch ein schmerzlicher Prozess), dass an der Forderung nach Entschädigung, die von Opferseite her gestellt worden ist, auch tatsächlich etwas dran ist. Dass es hier nicht einfach nur um Rache geht, sondern um eine Frage der Gerechtigkeit. Da ist in Deutschland viel gelaufen, und die katholische Kirche in Deutschland hat dazu auch ein entsprechendes Modell von Anerkennungszahlungen entwickelt, das, wie ich finde, in Deutschland einmalig ist. Es gibt keine Institution, die einen vergleichbaren Schritt gegangen ist, um Gerechtigkeit und damit auch Voraussetzungen für eine mögliche Versöhnung mit den Opfern zu schaffen!

Ich glaube auch, dass viel im Bereich der Prävention gelernt worden ist: dass es auch struktureller Maßnahmen bedarf, um diese Aufmerksamkeit, von der ich anfangs gesprochen habe, zumindest strukturell zu sichern. Zum Beispiel dadurch, dass es so etwas gibt wie Schülerrechte; dass Schüler auch über ihre Rechte informiert werden; dass es so etwas gibt wie Ombusstellen; dass diese Adressen bekannt sind und immer wieder bekannt gemacht werden, usw.. Das sind alles wichtige Dinge, die aus dem Skandal herausgekommen sind und wo in der Kirche auch viel gelernt worden ist.“

Was hat die Kirche womöglich aus ihrer Sicht noch nicht gelernt?

„Mich bewegt und bedrückt am tiefsten die Frage der Prävention - unter der Rücksicht, wo wir noch tiefer an unsere Strukturen und auch an spirituelle Fragen herangehen müssen. Das sind vor allem Fragen, die den Umgang mit geistlicher Macht betreffen, und zwar nicht nur durch diejenigen, die sie inne haben, sondern auch durch diejenigen, die sie anerkennen. Das ist ein gesamtkirchliches Thema! Um es ein bisschen zugespitzt zu formulieren: Klerikalismus ist nicht nur ein Problem der Kleriker. Das andere Thema ist natürlich das Hinhören auf Aussagen von Opfern, die die katholische Sexuallehre unter dem Aspekt sehen, wie diese mit ihrem Missbrauch zusammenhängt und auch mit ihrem Schweigen. Viele Missbrauchsopfer teilen mir mit, dass das Leiden für sie auch noch einmal einen spezifischen Geschmack hatte, der katholischer Art war. Das hängt mit den großen Schuld- und Schamgefühlen zusammen, die mit dem Missbrauch gekommen sind und die es ihnen auch schwer gemacht haben, zu sprechen. Da ist dann die Frage, wie wir in der Sexualpädagogik so über diese Themen sprechen können, dass Jugendliche nicht selbst ein Tabu daraus machen, wenn ihnen so etwas passiert.“

Wie ist Ihr theologischer Blick auf den Missbrauchsskandal? Wie lesen Sie das Evangelium mit dieser Erfahrung im Hinterkopf?

„Ich entdecke in der Missbrauchsthematik mehrere Themen. Das eine ist diese Erfahrung, dass man dadurch, dass man etwas aufdeckt, spaltet, ohne die Intention dazu zu haben. Das ist auch eine Erfahrung, die Jesus im Evangelium macht: Durch das Evangelium spaltet er. „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern Schwert“, sagt er dazu, also: Spaltung. Nicht weil er die Intention hat zu spalten, sondern weil die Botschaft des Evangeliums seine Entscheidung herausfordert und diese dann auch zu einer Spaltung führen kann.

Das ist ein Beispiel. Die andere Frage ist: Aus der Forderung der Opfer nach Entschädigung habe ich die Sühne-Theologie des Alten und des Neuen Testamentes und deren tiefen Sinn ganz neu entdecken dürfen. Nicht nur in der Frage nach der Versöhnung des Menschen mit Gott, sondern auch in der Frage nach der Versöhnung der Menschen untereinander. Dass es immer auch so etwas geben muss wie einen Prozess, in dem beide Seiten aktiv sind. Was ich übrigens auch als eine sehr katholische Position empfinde: zu sagen, das zur Versöhnung mit Gott auch ein Beitrag des Sünders gehört. Das ist ein hoch theologisches Thema.

Das dritte Thema, das mich auch sehr, sehr beschäftigt hat, ist zu entdecken, was der Vertrauensmissbrauch von Kindern biographisch bei Menschen auslöst. Nämlich, dass sie nur noch unter größten Schwierigkeiten vertrauen können oder gar nicht mehr vertrauen können. Wenn man aber misstraut, dann traut man dem Gegenüber ganz schlimme Dinge zu; das kann bis zum Hass führen. So hatte ich auch viel mit Hassgefühlen von Opfern gegenüber der Kirche oder gegenüber mir, als Repräsentanten der Kirche, zu tun.

Vom Evangelium her ist mir bewusst geworden, was diese Gewaltlosigkeit bedeutet - nämlich die andere Wange hinhalten. Das heißt, auf den Hass, der einem entgegenschlägt, nicht mit moralischer Verurteilung zu reagieren, sondern dadurch, dass man ihn gewaltfrei aushält, um den Kreislauf zu unterbrechen, der dazu führt, dass Gewalt, die man erlebt, immer wieder zurückgegeben wird und es zu einem Gewaltkreislauf kommt. Der tiefe Sinn der Bergpredigt und des Gewaltverbotes der Bergpredigt ist mir dadurch noch einmal ganz neu klar geworden. Gerade in der Begegnung mit dem Opfern.“

(rv 25.01.2012 sk/kt)








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