2012-01-22 09:09:41

Menschen in der Zeit: Rita Süssmuth


Menschen in der Zeit: Rita Süssmuth im Gespräch mit Aldo Parmeggiani

RealAudioMP3 Professor Dr. Rita Süssmuth hat auf sehr eindrückliche Weise die Politik in Deutschland über Jahrzehnte mit gestaltet und mit bestimmt. Zehn Jahre lang – von 1988 bis 1998 – war sie Präsidentin des deutschen Bundestages, davor Bundesfamilien – und Gesundheitsministerin. Daneben ist die überzeugte Christin ordentliche Professorin, Präsidentin des Volkshochschulverbandes und war langjähriges Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken. Rita Süssmuth feiert in diesen Tagen ihren 75. Geburtstag.

Frau Professor Süssmuth, sie galten lange Zeit in Deutschland als die ‚beliebteste Politikerin’. Einer Umfrage zu folge waren Sie jene Politikerin, der die meisten Befragten ‚ohne Bedenken’ ihr Auto anvertrauen würden. Wie würden Sie selbst Ihre ‚Andersartigkeit’, Ihre öffentliche Popularität in kurze Worte fassen?

„Ich bin angetreten mit bestimmten Vorstellungen: wie die Rolle der Frau künftig verändert werden müsste, was sie tun müssen gegen Ausgrenzung von Menschen, was sie tun müssen in der Frage Schutz des Lebens. Dafür habe ich mich eingesetzt – vielleicht manchmal auch zu hartnäckig – aber ohne Hartnäckigkeit geht es nicht.“

Wer viel Anerkennung hat, erntet meistens auch Kritik. Bisweilen sind Sie durch ungewöhnliche Auftritte auch auf Widerstand gestoßen. War das bewusste Provokation, politische Ambition oder einfach Zivilcourage?

„Ich bin meiner Überzeugung gefolgt, manchmal nach langem Nachdenken darüber – wagst Du’s oder Wagst Du’s nicht – ich bin manchmal auch gescheitert dabei, aber ich finde schon wichtig, dass die Überzeugungen stärker sind als die Ängste oder Opportunitäten“.

Was erwarten sich die meisten Menschen eigentlich von einer Bundestagspräsidentin in erster Linie? In nenne einmal: Orientierung, beispielhafte Lebensführung, glaubhafte Positionierung?

„Sie handelt danach, was sie sagt; Das ist das, was Sie glaubhafte Positionierung nennen. Ich denke zum anderen, wichtig sind die Umgangsformen. Wenn wir vom Parlament sprechen, dann lebt unsere Demokratie zugleich von Freiheiten, aber auch von Regeln, die von allen einzuhalten sind. Das sind so wichtige Umgangsregeln, die im Parlament praktiziert werden müssen, Es gibt manchmal Verbalangriffe, die sind schlimmer als körperliche Auseinandersetzungen.’

Und damit sind wir bei der Moral angekommen: Moral und Politik, passt das zusammen? Eine häufige Frage.

„Diese Frage irritiert mich: ich kann mir keine Politik ohne Moral vorstellen!
Selbst Macchiavelli wusste sehr wohl um diesen Zusammenhang“.

Was ist das Wichtigste in der Politik? Was muss in der Politik im Mittelpunkt stehen?

„Also für mich muss im Mittelpunkt stehen, der Mensch mit seiner Umgebung.
Mit seinen kognitiven, seinen verstandeskräftigen, seinen emotionalen und seinen sozialen Kräften. Und wir in der Politik haben es zu tun mit dem Zusammenleben der Menschen. Da geht es um die Frage: wie fair geht es zu, wie gerecht geht es zu. In welcher Weise werden die grundlegenden Menschenrechte geachtet.“

Ein neues Buch von Ihnen, es wird im kommenden März erscheinen, mit dem Titel: ‚Das Gift des Politischen’. Das klingt wie ein Krimi….

„Das ist kein Krimi, das ist nicht die Thematik meines Buches. Die Politik hat nach wie vor hohe Attraktivität. Wenn ich von mir selbst spreche, weil ich etwas verändern möchte. Und bei diesem Verändern ist es ganz wichtig, mit welchen Mitteln ich das tue. Was ich den Menschen sage über unsere Situation. Das Problem in unserer Republik ist in den letzten zwei Jahrzehnten gewesen, dass wir immer mehr versprochen haben, als wir halten konnten. Das ist Gift. Dass wir die Frage von Freiheiten, von Rechten und Pflichten nicht mehr ernst genug genommen haben. Es hat sich so ein Demokratieverständnis entwickelt: ich habe Rechte aber Pflichten habe ich eigentlich nicht. Das ist Gift!“

Sie sind eine engagierte Katholikin und weisen sich auch immer als solche aus: was heißt katholisch sein, heute?

„Ja, ich bin engagiert und der Glaube bedeutet mir sehr viel. Aber vor das Katholische kommt für mich das Christliche, Katholisch sein heißt für mich, offen sein für die Menschen. Das ist kein regionaler Glaube, das hängt mit den Botschaften unserer Schöpfungsgeschichte und der Rolle des Menschen in der Welt zusammen. Das heißt, dass wir gebunden und verbunden sind mit dem was ich Transzendenz nenne, Wir wissen: wir sind nicht allein gelassen. Und wir sollten andere nicht allein lassen. Wir sind zuständig für alle Menschen. Nicht nur für die Katholiken. Und keiner soll verloren gehen. Die Liebesbotschaft und die Erlösungsbotschaft: das ist für mich der Inhalt dessen, was mich bewegt und Vertrauen zu den Menschen zu haben, bei allem Wissen um unsere Schwächen“.

Wo ist die katholische Kirche für Sie ein wirkliches, echtes Beispiel, wo ist sie es nicht?

„Also am stärksten ist sie für mich Beispiel in der Caritas. In der Liebe, der sich uns Gott offenbart hat und die wir in dem Maße, wie wir Menschen es vermögen, weitergeben. Wo Menschen für Menschen eintreten, da ist sie beispielhaft. Sie ist beispielhaft, wenn es um die Freiheit der Menschen geht, ich würde mir wünschen, sie würde diese Freiheit auf der einen Seite noch konsequenter zulassen. Denn wir sind ein Leben lang Suchende. Unser Papst Benedikt XVI. hat als Theologe nie vertreten, dass wir d i e Wahrheit erkennen, sondern das sind Annäherungsschritte. Es ist mir wichtig, dass die katholische Kirche – auch sie hat ihre Schwächen – denken Sie an die Missbrauchsfälle - keinen Menschen aufgibt, auch wenn er nicht mehr in ihrem Sinne katholisch ist.“

Vor zehn Jahren haben Sie sich aus der aktiven Politik zurückgezogen, sich aber vermehrt in den Bereichen Zuwanderung, Integration eingesetzt. Sie sind eine ausgewiesene Expertin in Zuwanderungsfragen. Wie lauten Ihre Lösungskonzepte? Ist die Sorge vor Überfremdung begründet oder nicht?

„Was mir ganz wichtig ist: Einbeziehung der Menschen, nicht Ausgrenzung. Ob der Frauen, der Behinderten, der Fremden, der Aids-Infizierten, das ist der rote Faden, das Kontinuum in meiner Politik gewesen, und ist es auch heute noch. Ich bin wirklich von der Frauenpolitik zur Migrationspolitik gekommen, weil ich festgestellt habe, bei der Ausgrenzung der Frauen galten ähnliche Merkmale, wie bei der Ausgrenzung der Migranten. Hauptfrage ist die Sorge vor Überfremdung begründet? Da möchte ich Ihnen sagen: das verstehe ich als Christ überhaupt nicht, dass wir diese Sorge vor Überfremdung haben. Ob wir uns nun an die biblischen alt- oder auch neutestamentarischen Stellen besinnen, da geht es doch darum; dass kein Mensch uns fremd sein sollte, sondern dass wir aufgefordert sind: Nimm Dich des Menschen an. Überfremdung passiert dann, wenn wir selbst als Christen keine Position mehr haben. Und uns nicht einlassen auf den anderen. Deshalb halte ich den Dialog unter Christen genauso wichtig, wie den Dialog mit Menschen aus nicht christlichen Religionen“.

Im Umgang mit dem Schutz des ungeborenen Lebens – ein Paradigma der katholischen Kirche – ist es in Deutschland immer wieder zu Kontroversen gekommen. Sie haben darin eine liberale Haltung eingenommen.

„Ja, ich habe eine Haltung eingenommen, die auch abweicht von der römischen Position. Ich habe Schwierigkeiten damit, dass man das liberal nennt. Wenn liberal verstanden wird – also man kann so oder anders machen, man kann Leben erhalten und man kann Leben töten – dann habe ich nicht eine liberale Haltung eingenommen, sondern eine Haltung wo ich mich gefragt habe: wie können wir den Schutz des Lebens wirksamer durchsetzen? Das heißt – ich kann dies auch mit den Worten von Kardinal Lehmann sagen – das geht nur mit den Betroffenen und nicht gegen sie. Da betone ich noch einmal, dass es ganz entscheidend darauf ankommt, dass wir nicht relativieren, was nicht zu relativieren ist. Lebensschutz ist Lebensschutz. Und zwar das Leben von Anfang an. Klarheit in den grundlegenden Prinzipien. Aber das andere ist auch die Liebe zum Menschen, die Zuwendung in der Not. Wieder das Christliche: Lass niemand allein, niemand darf verloren gehen. Man kann mich kritisieren, aber ich möchte Ihnen sagen: die letzte Entscheidung muss diejenige treffen, die das Kind austrägt. Dabei kann es sein, dass sie eine falsche Entscheidung trifft. Aber, sie zu zwingen, das Kind auszutragen, gegen ihren Willen, kann genau so falsch sein. Um des Kindes und der Mutter Willen. Insofern haben wir nach Möglichkeiten gesucht, beide Gesichtspunkte, den Schutz und die verantwortliche Entscheidung, zusammenzuführen. Aber das ist letztlich ein nicht lösbarer Konflikt“.

Wie schätzen Sie das bisherige Pontifikat von Papst Benedikt XVI im allgemeinen ein?

„Ich möchte einfach sagen: mein Papstverständnis ist das Verständnis des guten Hirten, der sich kümmert, der aber auch Leitlinien angibt, der diese Gemeinschaft zusammenhält. Der nicht spaltet, sondern verbindet. Ich bewerte sehr positiv die Bereitschaft Benedikt XVI. zum Dialog, seine Aufrufe zu Frieden, Friedensfähigkeit zu entwickeln, Ich wünsche mir, dass dieser Papst noch mehr die Menschen spüren lässt: wir wissen nur bedingt etwas, wir begeben uns in Gottes Schutz, manchmal zweifelnd, manchmal in dem Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit, aber Gott muss an uns erfahren, wie sehr wir versagen, aber er braucht auch uns Menschen – um es mit dem Theologen Metz zu sagen – das ist ein wechselseitiges Verhältnis und wir sind dabei Lernende und Irrende wie auch mitunter uns auf dem rechten Weg befinden“.

Sind Glaube und Vernunft Gegensätze oder Herausforderungen, die sich ergänzen?

„Als erstes nennen ich: sie sind Herausforderungen. Sie schließen sich nicht aus, im Gegenteil. Aber es gibt für den Glauben Grenzen der Vernunft, wo ich mich entweder auf die Glaubensebene hinbewege oder nicht. Da werden die Gegensätze deutlich. Denn der Glaube an ein Leben nach dem Tod ist nicht beweisbar, sondern da gibt es eine Evidenz die nur in der Tiefe unserer Überzeugung liegen kann. Da spüren wir dann auch die Gegensätze, die Grenzen der Vernunft, ohne dass die Vernunft sagen kann: das ist ausgeschlossen, dass da noch etwas sein kann. Der Glaube bleibt auch ein Fragender der neuen Vergewisserung, die manchmal auch verloren gehen kann“.

Was würden Sie als den Kern der christlichen Botschaft bezeichnen?

„Der Kern der christlichen Botschaft – das sagt ja der Theologe Ratzinger selbst, ist die Liebesbotschaft. Und mit der Liebesbotschaft verbunden, die Erlösungsbotschaft. Da möchte ich auf eine Paradoxie eingehend, die offenbar überzeugten Gläubigen anderer Religionen sehr zu schaffen macht: Wie könnt ihr Christen einen Gekreuzigten zu euern Gott erheben? Die Paradoxie – ich sage das mal mit Erasmus - ist das Kreuz, das ist die Kernbotschaft – auch zugleich ein sich Einlassen, nicht Herablassen, auf die extremsten existentiellen Situationen eines Menschen und andererseits in dieser Schwäche sich eine Stärke offenbart, die uns immer wieder neu im Glauben bewusst wird. Das nenne ich Paradoxie, weil man denkt, jemand der schwach ist kann nicht stark sein. Doch, das erleben wir an Menschen mit oft tiefer Krankheit, aussichtsloser Situation. Und von daher diese Liebes- und Erlösungsbotschaft ist für mich der Kern des Christlichen“.

Welche Gestalten würden Sie im Bezug auf Ihre Lebensphilosophie nennen?

„Da nenne ich Ihnen als erstes Thomas Morus. Das ist ein Stück meiner Lebensphilosophie, auch ein Mensch, der sehr gerungen hat mit seinem Leben. Der vita activa und der vita kontemplativa, einlassend sich engagierend auch im Alltag der Politik. Ich nennen Ihnen zum anderen Persönlichkeiten wie Franziskus. Jetzt werden Sie sagen: das sind ja nicht mehr Lebende, aber Tote können sehr lebendig sein. Und der afrikanische Kämpfer für Rassismus, Nelson Mandela, der ist für mich ein Lebensbeispiel.“

Was bereitet Ihnen heute am meisten Sorgen?

„Die immer größer werdende Kluft zwischen Menschen verschiedener sozialer Lagen, verschiedener Lebensalters . Wir sind wieder stärker bei Ausgrenzung als bei Einbindung. Mich bedrückt , wenn ich in der arabischen Revolution erfahren muss, dass das Leben der Menschen dort so aussichtslos von Armut bestimmt ist. Und wir darüber kaum sprechen….
Wir haben uns so sehr an Wohlstand gewöhnt, dass wir anderei sträflich vernachlässigt haben. Und unserer Jugend zum Teil Steine statt Brot angeboten haben“.

Was geben Sie von Ihren beruflichen und menschlichen Erfahrungen der Jugend weiter?

„Ich gebe nicht nur meine Erfahrung weiter, sondern, - das ist wunderbar beim Älterwerden – Erfahrung mit Jugendlichen von denen ich viel mitnehme und in meinem Denken und Handeln beachte. Das ist eine wechselseitige Begegnung. Wir geben nicht einfach nur an die Jugend weiter, sondern die Jugend auch an uns“.

(rv 22.01.2012 ap)







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