Beim feierlichen Te Deum zum Jahresschluß hat Papst Benedikt XVI. die letzte Predigt
des Jahres 2011 gehalten. Wir dokumentieren hier den Text in der offiziellen deutschen
Übersetzung.
Meine Herren Kardinäle, verehrte Mitbrüder im bischöflichen
und im priesterlichen Dienst, sehr geehrte Vertreter des öffentlichen Lebens, liebe
Brüder und Schwestern!
Wir sind in der Vatikanischen Basilika versammelt, um
die Erste Vesper des Hochfestes der Gottesmutter Maria zu feiern und um dem Herrn
am Ende des Jahres Dank zu sagen, indem wir gemeinsam das Te Deum singen. Ich danke
euch allen, die ihr gemeinsam mit mir an diesem immer stimmungsvollen und bedeutsamen
Anlaß teilnehmt. An erster Stelle begrüße ich die Herren Kardinäle, die verehrten
Mitbrüder im bischöflichen und im priesterlichen Dienst, die Ordensleute, die gottgeweihten
Personen und die gläubigen Laien, die die ganze kirchliche Gemeinde Roms vertreten.
In besonderer Weise begrüße ich die anwesenden Vertreter des öffentlichen Lebens,
angefangen mit dem Bürgermeister von Rom, dem ich für das Geschenk des Kelches danke,
das nach einer schönen Tradition Jahr für Jahr wiederholt wird. Ich wünsche mir von
Herzen, daß es nie am Einsatz aller fehle, damit das Bild unserer Stadt immer mehr
mit den Werten des Glaubens, der Kultur und der Zivilisation übereinstimmt, die ihrer
Berufung und ihrer tausendjährigen Geschichte zu eigen sind. Ein weiteres Jahr
geht zu Ende, während wir ein neues erwarten – wie immer mit Bangen, mit Wünschen
und Erwartungen. Wenn man an die Erfahrung des Lebens denkt, staunt man, wie kurz
und flüchtig es im Grunde ist. Darum stellt sich einem nicht selten die Frage: Welchen
Sinn können wir unseren Tagen geben? Welchen Sinn können wir im besonderen den von
Mühe und Leid geprägten Tagen geben? Das ist eine Frage, die sich durch die ganze
Geschichte hindurchzieht, ja, die das Herz jeder Generation und jedes Menschen beschäftigt.
Doch es gibt eine Antwort auf diese Frage: Sie steht im Antlitz eines Kindes geschrieben,
das vor zweitausend Jahren in Bethlehem geboren wurde und heute der Lebende ist, der
für immer vom Tod erstanden ist. In das Gefüge der Menschheit, das durch so viele
Ungerechtigkeiten, Bosheiten und Gewalttaten zerrissen ist, bricht überraschend die
frohe und befreiende Neuheit Christi, des Retters, herein, der uns im Geheimnis seiner
Menschwerdung und seiner Geburt die Güte und Zärtlichkeit Gottes schauen läßt. Der
ewige Gott ist in unsere Geschichte eingetreten und bleibt in einzigartiger Weise
gegenwärtig in der Person Jesu, seines menschgewordenen Sohnes, unseres Retters, der
auf die Erde gekommen ist, um die Menschheit von Grund auf zu erneuern und von Sünde
und Tod zu befreien, um den Menschen zur Würde der Gotteskindschaft zu erheben. Weihnachten
erinnert nicht nur an die historische Erfüllung dieser Wahrheit, die uns unmittelbar
betrifft, sondern in geheimnisvoller und realer Weise schenkt es sie uns von neuem. Wie
eindrucksvoll ist es, in diesem Ausklingen eines Jahres erneut die frohe Verkündigung
zu hören, die der Apostel Paulus an die Christen von Galatien richtete: „Als aber
die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz
unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die
Sohnschaft erlangen“ (Gal 4,4-5). Diese Worte dringen ins Innerste der Geschichte
aller vor und erhellen, ja erretten sie, denn seit dem Tag der Geburt des Herrn ist
die Fülle der Zeit zu uns gekommen. Es ist also kein Raum mehr für die Angst vor der
dahineilenden Zeit, die nicht wiederkehrt; jetzt ist Raum für ein unbegrenztes Vertrauen
auf Gott, von dem wir uns geliebt wissen, durch den wir leben und auf den hin unser
Leben ausgerichtet ist in Erwartung seiner endgültigen Wiederkehr. Seit der Retter
vom Himmel herabgestiegen ist, ist der Mensch nicht mehr Sklave einer Zeit, die sinn-
und ziellos vergeht oder die von Mühe, Traurigkeit und Leid gezeichnet ist. Der Mensch
ist Kind eines Gottes, der in die Zeit eingetreten ist, um die Zeit aus der Sinnlosigkeit
oder der Nichtigkeit zu befreien, und der die gesamte Menschheit erlöst hat, indem
er ihr als neue Lebensperspektive die Liebe geschenkt hat, die ewig ist. Die Kirche
lebt und bekennt diese Wahrheit und möchte sie auch heute noch mit neuer geistiger
Kraft verkünden. In dieser Feier haben wir besondere Gründe, Gott für sein Heilsgeheimnis
zu loben, das durch den Dienst der Kirche in der Welt wirksam ist. Wir haben so viele
Gründe, dem Herrn zu danken für das, was unsere kirchliche Gemeinschaft im Herzen
der Weltkirche im Dienst am Evangelium in dieser Stadt vollbringt. In diesem Zusammenhang
danke ich – gemeinsam mit dem Kardinalvikar Agostino Vallini, den Weihbischöfen, den
Pfarrern und dem ganzen Presbyterium der Diözese – dem Herrn insbesondere für den
vielversprechenden gemeinsamen Weg, die gewöhnliche Seelsorge durch den Plan „Kirchliche
Zugehörigkeit und pastorale Mitverantwortung“ den Erfordernissen unserer Zeit anzupassen.
Dieser Weg hat zum Ziel, die Evangelisierung an die erste Stelle zu setzen, um die
Teilnahme der Gläubigen an den Sakramenten verantwortungsbewußter und fruchtbarer
zu machen, so daß jeder zum Menschen von heute von Gott sprechen kann und das Evangelium
all denen, die es nie kennengelernt oder vergessen haben, wirksam verkünden kann.
Die quæstio fidei ist auch für die Diözese Rom die vordringliche pastorale Herausforderung.
Die Jünger Christi sind gerufen, in sich selbst und in den anderen die Sehnsucht nach
Gott wieder wachzurufen wie auch die Freude, in ihm zu leben und ihn zu bezeugen,
ausgehend von der stets sehr persönlichen Frage: Warum glaube ich? Man muß der Wahrheit
den Vorrang einräumen; die Verbindung von Glaube und Vernunft als zwei Flügeln bekräftigen,
mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt (vgl. Johannes
Paul II., Enzyklika Fides et ratio, Einleitung); den Dialog zwischen Christentum und
moderner Kultur fruchtbar machen; die Schönheit und Aktualität des Glaubens wieder
entdecken lassen, und zwar nicht als einen in sich stehenden, isolierten Akt, der
einige Momente des Lebens betrifft, sondern als eine beständige Orientierung, die
auch für die ganz einfachen Entscheidungen gilt und zur tiefen Einheit des Menschen
führt und ihn gerecht, wirksam, wohlwollend und gut macht. Es geht darum, einen Glauben
zu beleben, der einen neuen Humanismus begründet, der in der Lage ist, Kultur und
soziales Engagement hervorzubringen. In dieser Hinsicht hat die Diözese Rom mit
der Pastoraltagung im letzten Juni einen Weg der Vertiefung der christlichen Initiation
und der Freude, neue Christen zum Glauben zu führen, begonnen. Den Glauben an das
fleischgewordene Wort Gottes zu verkünden ist in der Tat das Herz der Sendung der
Kirche, und die ganze Gemeinschaft der Kirche muß mit neuem missionarischem Eifer
diesen unabdingbaren Auftrag wieder entdecken. Vor allem für die jungen Generationen,
die vermehrt die Orientierungslosigkeit spüren – diese wird auch durch die gegenwärtige
Krise verschärft, die nicht nur wirtschaftlicher Natur ist, sondern ebenso eine Krise
der Werte ist –, ist es nötig, in Jesus Christus „den Schlüssel, den Mittelpunkt und
das Ziel der ganzen Menschheitsgeschichte“ zu erkennen (vgl. Zweites Vatikanisches
Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 10). Die Eltern sind die ersten Erzieher
zum Glauben ihrer Kinder von jüngstem Alter an; daher ist es notwendig, die Familien
in ihrem Erziehungsauftrag durch geeignete Initiativen zu unterstützen. Zugleich ist
es wünschenswert, daß der Weg zur Taufe, der ersten Etappe des Bildungswegs der christlichen
Initiation, außer der Förderung der bewußten und würdigen Vorbereitung auf die Feier
des Sakraments auch den Jahren, die unmittelbar auf die Taufe folgen, entsprechende
Aufmerksamkeit schenkt durch dafür vorgesehene Wege, die den Lebensumständen, denen
die Familien zu begegnen haben, Rechnung tragen. Ich ermutige daher die Pfarrgemeinden
und die anderen kirchlichen Einrichtungen, mit Eifer die Überlegungen fortzusetzen,
um ein tieferes Verständnis und einen besseren Empfang der Sakramente, durch die der
Mensch am göttlichen Leben selbst teilhat, zu fördern. Der Kirche von Rom möge es
nicht an gläubigen Laien fehlen, die bereit sind, ihren Beitrag zum Aufbau lebendiger
Gemeinden zu leisten, die es dem Wort Gottes ermöglichen, in die Herzen derer einzudringen,
die den Herrn noch nicht kennen oder sich von ihm entfernt haben. Gleichzeitig ist
es angebracht, Gelegenheiten zur Begegnung der Kirche mit der Stadt zu schaffen, die
einen nützlichen Dialog mit all denen erlauben, die auf der Suche nach der Wahrheit
sind. Liebe Freunde, seit Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat, damit wir
die Sohnschaft erlangen (vgl. Gal 4,5), kann es für uns keine größere Aufgabe geben
als die, ganz dem göttlichen Plan zu dienen. Diesbezüglich möchte ich alle Gläubigen
der Diözese Rom, die die Verantwortung verspüren, unserer Gesellschaft wieder eine
Seele zu geben, ermutigen und ihnen danken. Vielen Dank euch, den Familien Roms, den
ersten und grundlegenden Zellen der Gesellschaft! Vielen Dank den Mitgliedern der
zahlreichen Gemeinschaften, der Vereinigungen und Bewegungen, die sich darum bemühen,
das christliche Leben in unserer Stadt zu beleben! „Te Deum laudamus!“ Dich,
Gott, loben wir. Die Kirche schlägt uns vor, das Jahr nicht zu beenden, ohne an den
Herrn unseren Dank für all seine Wohltaten zu richten. In Gott soll unsere letzte
Stunde enden, die letzte Stunde der Zeit und der Geschichte. Dieses Ende unseres Lebens
zu vergessen hieße ins Leere zu fallen, ohne Sinn zu leben. Deswegen legt die Kirche
den alten Hymnus Te Deum auf unsere Lippen. Es ist ein Hymnus voll der Weisheit vieler
christlicher Generationen, die das Bedürfnis verspüren, ihr Herz zu erheben im Bewußtsein,
daß wir in Gottes Händen voller Barmherzigkeit geborgen sind. „Te Deum laudamus!“
So singt auch die Kirche in Rom wegen der Wundertaten, die Gott in ihr gewirkt hat
und wirkt. Mit dankerfülltem Herzen bereiten wir uns vor, die Schwelle des Jahres
2012 zu überschreiten, und denken dabei daran, daß der Herr über uns wacht und uns
schützt. Ihm wollen wir an diesem Abend die ganze Welt anvertrauen. In seine Hände
legen wir die Tragödien unserer Welt und übergeben ihm auch die Hoffnung auf eine
bessere Zukunft. Diesen Wunsch legen wir in die Hände Marias, der Mutter Gottes, Salus
Populi Romani.