Die islamistische
Partei Ennahda hat 89 von 217 Sitzen im tunesischen Parlament gewonnen. Damit ist
sie bei weitem die stärkste Kraft in der „Assemblée Nationale“ von Tunis. An zweiter
Stelle steht die linke Partei CPR mit 29 Sitzen. Die Zahlen wurden an diesem Montag
offiziell bekanntgegeben, drei Wochen nach Tunesiens ersten Wahlen seit dem Umsturz.
Die Wahlkommission sprach von einer Wahlbeteiligung von gut 54 Prozent. Die EU, besorgt
über die sich abzeichnende Machtübernahme der Islamisten, ruft Tunesien zum Respekt
der Menschenrechte auf. Erzbischof Maroun Lahham von Tunis sagt uns:
„Der
Sieg der Ennahda war abzusehen, wenn auch nicht in dieser Höhe. Sie selbst sind überrascht,
dass sie so viele Sitze bekommen. Weil die Wahlen aber transparent und demokratisch
verlaufen sind, akzeptieren wir das Resultat. Wir vertrauen auf das politische Programm,
das Ennahda vor den Wahlen präsentiert hat, und werden die Augen offenhalten, ob diese
Versprechen eingehalten werden, wenn die Partei an der Macht ist. Es sind schon Verhandlungen
mit mehreren Parteien über die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit im Gang;
uns bleibt jetzt nur abzuwarten, bis sich in etwa zehn Tagen die neue Regierung gebildet
hat. Wir sind voll Vertrauen, aber auch gespannt, denn es ist das erste Mal, das eine
islamische Partei – auch wenn sie gemäßigt ist – die Zügel im Land übernimmt.“
Bischöfe
aus ganz Nordafrika treffen sich derzeit in Tunis, um über die Auswirkungen des so
genannten Arabischen Frühlings auf die christlichen Minderheiten zu beraten. Wird
eine Regierung der Ennahda Auswirkungen auf Tunesiens Christen haben?
„In
keinster Weise. Die Präsenz der Christen in Tunesien hat nichts zu tun mit der Revolution
– weder vorher, noch zwischendurch, noch danach. Wir sind eine winzige Minderheit
und stellen nicht die geringste Gefahr dar. Die Revolution in Tunesien hatte soziale,
politische und demokratische Gründe; es ging um die Forderung nach Freiheit. Im Gegenteil
– jetzt, wo es ein demokratisches Regime gibt, hoffen wir auf etwas mehr Spielraum.
Für uns hat sich die Lage auf jeden Fall verbessert!“
„Ich bin nicht naiv“,
sagt Erzbischof Lahham, „eine gewisse Vorsicht steht uns auch jetzt gut an“; er lese
jeden Tag die Zeitung und achte auch „auf die kleinen Details“. Trotzdem, er sei „im
wesentlichen optimistisch“.
„Die Kirche wird hier weitermachen wie zuvor:
einerseits Seelsorge, andererseits Sozial- und Bildungsarbeit. Und weil der größte
Teil unserer Gläubigen aus Ausländern besteht, die aus demokratischen Ländern kommen,
können sie vielleicht auch dabei helfen zu verstehen, was demokratisches Leben bedeutet.
Man kann ja nicht von einem diktatorischen Regime zu einem demokratischen so übergehen,
wie man sich das Hemd wechselt. Um eine gewisse demokratische Mentalität zu entwickeln,
werden wir also ein paar Jahre brauchen. Und dabei können wir Christen – vor allem
die, die aus demokratischen Ländern kommen – einen Beitrag leisten.“