Bevor Griechenland
und Italien ins Visier der Märkte gerieten, spielte Ungarn gewissermassen die Rolle
des Sündenbocks in der EU: Ministerpräsident Viktor Orban, der bis vor kurzem auch
noch die EU-Ratspräsidentschaft innehatte, bringt regelmäßig die Beobachter in anderen
Ländern der Union gegen sich auf. Nicht nur mit einem heftig umstrittenen Mediengesetz,
sondern auch mit seiner neuen Verfassung, in deren Präambel ein nationales Credo aufgenommen
wurde, und mit der Ausstellung der Stephanskrone im Budapester Parlament. Einige warnen,
die mit Zweidrittelmehrheit ausgestattete neue Regierung nutze kirchliche Requisiten,
um ein rückwärtsgewandtes Regime zu installieren. Anne Preckel traf in diesen Tagen
in Esztergom den Budapester Kardinal Peter Erdö. In unserem Interview der Woche fragte
sie ihn, ob die Kirche etwas mit dem neuen Mediengesetz zu tun hat.
„Nie
– weder bei der Vorbereitung waren wir beteiligt, noch waren wir zufrieden mit den
vorigen Zuständen, noch haben wir nachher Stellung genommen. Aber Wirbel gab es nicht
nur über das Mediengesetz, sondern auch über die Verfassung, über das Religionsgesetz
usw. – praktisch über alle Gesetze, die jetzt mit Zweidrittelmehrheit angenommen werden!
Also, in dieser Atmosphäre ist es nicht immer angebracht, dass die Kirche jeden Tag
Stellung nimmt. Andererseits sind wir wirklich als Institution nicht an der Vorbereitung
der Gesetze beteiligt; in diesem Sinn gibt es Elemente, die wir in verschiedenen Elementen
mit Freude entdecken und andere, die wir nicht immer deuten können. Vorher war es
allerdings nicht besser...“
Wie hat sich denn das Verhältnis zwischen
Staat und Kirche in Ungarn Ihrer Einschätzung nach in letzter Zeit entwickelt?
„Wenn
die letzte Zeit die letzten Monate bedeutet, dann kann ich sagen, dass die Verhältnisse
sehr ruhig sind und eigentlich positiv. Aber wenn man an die letzten zwanzig Jahre
denkt, dann kann man auch sagen, dass die Grundbedingungen der Religionsfreiheit zwar
gottseidank gegeben sind, auch wenn man über Gerechtigkeit, Finanzierung und verschiedene
Verletzungen der Rechte der Gläubigen diskutieren kann. Sicherlich konnte sich ein
gläubiger Christ in den letzten zwanzig Jahren nicht immer als ein gleichberechtigtes
Mitglied der Gesellschaft fühlen. Die Nachwirkungen der früheren Zeit beziehungsweise
die neuen Strömungen, die vom Westen her kommen, verursachen manchmal Spannungen über
Religion und Glauben. Wir sind leidende Subjekte dieser Verwirrung seit siebzig Jahren
– daran sind wir schon einigermaßen gewöhnt.“